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Welcher Christ glaubt wirklich noch im engeren Wortsinne?


Sokrates

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Lieber Volker,

 

du hast recht, dass es Menschen gibt, die tun so, als wenn der religiöse Glauben das Gleiche wie ein naturwissenschaftliches oder noch schlimmer wie ein mathematisches Wissen sei. Aber sie tun so, weil ihnen die Fähigkeit fehlt, diese Dinge zu trennen oder zumindest sie entsprechend differenziert zu formulieren. Warum sollte man darin so schlimme Verschwörungstheorien sehen, wie du sie immer wieder verbreitest?

 

Weil im Glauben noch etwas steckt, was sehr wichtig ist und meist übersehen wird: Gehorsam gegenüber Autoritäten. In dem ich etwas glaube, was ich nicht nachprüfen kann, leiste ich einen Akt des Gehorsams. Das Autoritäten denen ihnen entgegengebrachten Gehorsam in der Geschichte meist zu ihrem Vorteil und zum Nachteil der Meisten ausgenutzt haben, ist wohl schwer zu bestreiten.

 

Es ist nämlich ein Unterschied, ob etwas für mich nachprüfbar ist oder nicht: Wenn mir jemand etwas erzählt, was ich leicht nachprüfen kann, dann kann ich eher davon ausgehen, dass er die Wahrheit sagt - ich muss es also nicht einmal nachprüfen. Sollte er mich belügen, muss er mit der Angst leben, dass ich ihn durchschaue. Sollte er sich irren, muss er damit leben, dass ich ihn widerlege. Es spielt also nicht unbedingt eine Rolle, ob ich es wirklich nachprüfe oder nicht, ich kann mich mit Stichproben begnügen.

 

Aber wenn mir jemand etwas erzählt, was ich nicht nachprüfen kann, was einen moralischen Einfluss auf mich haben soll, d. h., ich soll mein Verhalten danach richten, dann gewinnt das eine ganz neue Dimension: Ich werde manipulierbar. Es ist ja nicht schlimm, wenn ich (beispielsweise) nicht nachprüfen kann oder will, ob es mit zunehmender Geschwindigkeit eine Längenkontraktion gibt oder nicht, das hat auf mein tägliches Leben, speziell darauf, wie ich mich verhalten soll, keinen Einfluss. Es ist aber etwas völlig anderes, wenn es um Mythen geht.

 

Ich will den Begriff des Mythos jetzt einmal ganz bösartig definieren - und Ihr werdet feststellen, dass diese Definition in Euren Definitionen mit enthalten ist, es ist nur eine nicht bedachte Konsequenz:

 

Ein Mythos ist eine durch Immunisierung gegen Kritik geschützte, aber erfundene Geschichte, die u. a. dazu dienen soll, das (moralische) Verhalten von Leuten zu manipulieren.

 

Das "u. a." ist mir sehr wichtig - ein Mythos könnte auch die Funktion haben, den Menschen etwas beizubringen, ihnen Freiheit zu geben, eine Nation zu gründen (Beispiel: Die Erfindung des Wilhelm Tell zur Gründung der Schweiz) und einiges mehr. Solche Mythen meine ich aber in diesem Zusammenhang nicht.

 

Bei dem Jesus-Mythos geht es aber immer auch um Gehorsam einer Institution gegenüber, der Kirche - dazu werden sogar Teile des Mythos verdreht, etwa, wenn Jesus sagt :"Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind..." und die Kirche hinzufügt: "Aber nicht ohne einen offiziell geweihten Priester!". Mythen lassen sich immer sehr frei interpretieren. Wem soll man glauben, welche der Interpretationen nun die richtige ist?

 

Man muss nicht paranoid sein, um zu wissen, dass sich der Missbrauch von Mythen zur Erzielung und teilweise Erzwingung von "Wohlverhalten" gegenüber Autoritäten wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht.

 

Provokativ gefragt: Wozu braucht man überhaupt Mythen zur Moral? Kann man das nicht auch mit Gesetzen und Einsicht regeln? Muss man unbedingt einen Mythos haben, der einem Unsterblichkeit vorgaukelt (die es geben mag oder nicht), damit die Leute sich im Hinblick auf ein "zukünftiges Leben" anständig verhalten? Übrigens ist der Inhalt des Mythos eigentlich banale Nebensache, der Mythos der Wiedergeburt würde denselben Zweck erfüllen. Aber wie auch immer, im Mythos steckt die pessimistische Sicht, dass man den Menschen nicht die Wahrheit erzählen darf, damit sie sich anständig verhalten. Wobei dabei zu "anständig" meist Wohlverhalten gegen bestimmte Autoritäten gehört, was ich selbst für höchst unanständig halte.

 

Im Mythos geht es nicht im Wahrheit - man benutzt zwar gerne den Begriff, schmückt sich damit - sondern es geht um Manipulation. Mythen zu entlarven als das, was sie sind - erfundene Geschichten zur Manipulation der Massen - ist eine Vorbedingung dazu, die Menschen wirklich zur Wahrheit und zur Freiheit zu führen. Man kann das auch mit Mythen versuchen, nur bekämpft man dann Feuer mit Feuer und kann dabei leicht das Verbrennen, was man eigentlich wahren wollte.

 

Warum also Mythen? Reicht die Wahrheit nicht aus, muss man sie unbedingt "ergänzen"? Wenn man sie "ergänzt", handelt es sich natürlich nicht mehr um die Wahrheit, von einer "Wahrheit des Mythos" zu reden ist eine grobe Verdrehung dessen, was da eigentlich passiert.

 

Mythos heißt: Man weiß die Wahrheit zwar nicht, aber man leitet daraus ab, wie man sich verhalten sollte. Man will die Wahrheit auch nicht wissen, vielleicht, weil sich unangenehme Konsequenzen daraus ergeben (etwa: dass es keinen guten Papa im Himmel gibt, der über einen wacht, oder der einen belohnt, weil man gerade etwas Gutes getan hat, von dem niemand erfährt).

 

Ich will die Welt nicht in "wissenschaftliche Wahrheiten" und "Mythen" aufteilen - weil Mythen nicht zur Wahrheit dazugehören, und daran ändern die ganzen Beschönigungen überhaupt nichts.

Lieber Volker,

 

wieder ein typisches Beispiel dafür, dass du als Motiv von allem Verschwörungen und Manipulation siehst. Darin, dass Menschen sich leider manipulieren lassen und Glaubensaussagen für unumstößliches Wissen halten, habe ich dir im zitierten Text gerade zugestimmt. Dass das einzige Motiv für Mythen oder sogar alle Glaubensaussagen seien, ist dagegen eine völlig unbewiesene Vermutung. Sie ist von deinem stets einengenden Bild des Glaubens geprägt, das vielleicht aus schlechten Erfahrungen heraus entstanden ist. Glauben soll den Menschen dagegen befreien, ihm eine geistige Alternative bieten, die ihm von den Zwängen des Alltags, ihm von seinen eigenen Trieben und auch fremdgesteuerten Manipulationen befreien. Dieser hohe Anspruch wird im konkreten Leben meist nicht erreicht. Es ist aber schon ein Fortschritt, wenn der Glauben einen kritikfähig gegenüber sich selbst und den Versuchungen des Lebens macht, wenn er einem mögliche Ziele vor Augen hält, die weit über diese Abhängigkeiten hinausgehen.

 

Natürlich kann jeder Text, wenn er bewusst und aufmerksam gelesen oder gar im Glaubenssinn transzendiert wird, einen Menschen geistig manipulieren, aber das lässt sich gar nicht verhindern. Abzulehnen ist Manipulation erst wenn sie alternativlos wird, in Wirklichkeit aber gar nicht ist (Josef gibt immer wieder tolle Beispiele dafür, mit seinem voraufkläererischem Glaubensverständnis und Gehorsamsedikten).

Mythen sind da aber ganz anders. Sie sind oft vielfach deutbar und haben doch einen für jeden Menschen mit Gefühl und gesundem Menschenverstand erkennbaren Kern. In dem sie auf die Einsichtsfähigkeit des Menschen setzen, setzen sie auch auf seine Glaubensfreiheit. Mythen sind oft ein Kunstwerk der Sprache ähnlich wie kunstvolle Gemälde. Aufgrund eines natürlichen und eines evolutiv entwickelten ästhetischen Empfinden, können sie Menschen in aller Freiheit ansprechen. Man kann natürlich kommerziellen Modetrends verfallen, die aber letztendlich immer wieder überwunden werden.

 

Mythen sind eine bereits in den frühesten Texten der Menschheit stark vertretene Kunst- und Kommunikationsform. Ihre oft ähnlichen Weisheiten entsprangen wirklich keinem globalen Manipulationsinteresse (das gab es nicht und wäre auch technisch gar nicht möglich gewesen), sondern lassen sich eher als eine Ausdrucksform natürlichen menschlichen Denkens interpretieren. Meine Frage bleibt: Warum sollte man darin so schlimme Verschwörungstheorien sehen, wie du sie immer wieder verbreitest? Übersiehst du nicht aus Angst jemand könnte dich manipulieren, alles Schöne und Wichtige, was dir andere Menschen vermitteln können?

 

Mit freundlichen Grüßen

vom Zwilling

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GermanHeretic

Ich will den Begriff des Mythos jetzt einmal ganz bösartig definieren - und Ihr werdet feststellen, dass diese Definition in Euren Definitionen mit enthalten ist, es ist nur eine nicht bedachte Konsequenz:

 

Ein Mythos ist eine durch Immunisierung gegen Kritik geschützte, aber erfundene Geschichte, die u. a. dazu dienen soll, das (moralische) Verhalten von Leuten zu manipulieren.

 

[...]

 

Warum also Mythen? Reicht die Wahrheit nicht aus, muss man sie unbedingt "ergänzen"? Wenn man sie "ergänzt", handelt es sich natürlich nicht mehr um die Wahrheit, von einer "Wahrheit des Mythos" zu reden ist eine grobe Verdrehung dessen, was da eigentlich passiert.

Mythen sind eine bereits in den frühesten Texten der Menschheit stark vertretene Kunst- und Kommunikationsform. Ihre oft ähnlichen Weisheiten entsprangen wirklich keinem globalen Manipulationsinteresse (das gab es nicht und wäre auch technisch gar nicht möglich gewesen), sondern lassen sich eher als eine Ausdrucksform natürlichen menschlichen Denkens interpretieren.

"Mythen formulieren kulturspezifisch den Versuch des Menschen, seine intuitiven Ideen über den menschlichen Geist und seine Umgebungen sowie eine nur vage wahrgenommene Wahrheit über sein innersten Wesen auszudrücken. So helfen uns Mythen mehr über unsere spirtuelle Herkunft zu entdecken und vielleicht auch einige der Fehler zu bemerken, die in der modernen Entwicklung der Welt stecken. Das Studium der Mythen braucht nicht länger als Flucht vor der Realität in die Phanatsiewelt primitiver Völker gesehen zu werden, sondern vielmehr als die Suche nach einem tieferen Verständnis des menschlichen Geistes"

(Ellis Davidson, Gods and Myths, Übersetzung von mir)

 

ps: Danke nochmal an LJS für den Text "Altnordische Dichtung", den er im Archetypenfred verknüpft hat und aus dem ich obiges Zitat entnommen habe.

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Mythen sind eine bereits in den frühesten Texten der Menschheit stark vertretene Kunst- und Kommunikationsform. Ihre oft ähnlichen Weisheiten entsprangen wirklich keinem globalen Manipulationsinteresse (das gab es nicht und wäre auch technisch gar nicht möglich gewesen), sondern lassen sich eher als eine Ausdrucksform natürlichen menschlichen Denkens interpretieren.

 

Ich lass jetzt mal die Frage außen vor, ob Mythen tatsächlich manipulativ wirken, wobei nicht übersehen werden sollte, dass Volker in seiner angebotenen Definition das "u.a." besonders betont hat.

 

Ich überlege schlicht, ob Manipulation nicht auch Gegenstand wenn nicht von Mythen so doch von Legenden sein könnte, die sich um mythologische Personen ranken.

 

Da fällt mir auf die Schnelle eine ganze Menge ein:

 

Natürlich Odysseus; ein Manipulator wie er im Buch steht. Oder auch Loge in der gemanischen Mythologie (übrigens der einzige mir sympathische aus der ganzen Sippschaft). Oder aus der Bibel eine Reihe von Geschichten aus der Familie von Abraham: wie Abraham selbst mit seinem Gott über Sodom und Gomorrha feilscht und Gott auch manipuliert, hat schon eine geradezu shakespearesche Komik. Dass sein Herr sich am Ende aber nicht täuschen lässt, kostet der Belegschaft der beiden Städte allerdings das Leben.

 

Meine Lieblingsfigur aus sämtlichen vorstellbaren mythologischen Legenden ist allerdings Sancho Pansa. Er manipuliert seinen Don Quichote ständig und entmythologisiert dabei dessen falsches Bewusstsein, bis nichts mehr davon übrig bleibt. Es bleibt beiden allerdings die Erinnerung, dass sie schon eine tolle Zeit miteinander hatten.

 

Übrigens ritt Sancho Pansa stets auf einem Esel, sodass ihm schon allein deshalb die ganze hoch zu Roß daherkommende Germanenmythologie nicht das Wasser reichen kann.

 

Dann gab es noch so einen Eselsreiter, um den sich mythologische Legenden weben. Ich gestehe, dass mein Entmythologisierungsprozess in Bezug auf diese Person nicht zuletzt damit eingesetzt hat, dass ich mir nie vorstellen konnte, der würde jemals lügen. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass er jemals lachen würde. Irgendwann - ich war damals noch ein Kind - konnte ich mir ihn deshalb gar nicht mehr vorstellen.

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Lieber Volker,

 

wieder ein typisches Beispiel dafür, dass du als Motiv von allem Verschwörungen und Manipulation siehst. Darin, dass Menschen sich leider manipulieren lassen und Glaubensaussagen für unumstößliches Wissen halten, habe ich dir im zitierten Text gerade zugestimmt. Dass das einzige Motiv für Mythen oder sogar alle Glaubensaussagen seien, ist dagegen eine völlig unbewiesene Vermutung.

 

Das ist nicht einfach nur eine unbewiesene Behauptung, sondern eine falsche Behauptung. Selbstverständlich ist es nicht so, dass dies das einzige Motiv für Mythen ist - darüber haben wir keinen Dissens. Es ist bloß eine wenig bedachte Konsequenz vieler Mythen.

 

Man könnte ja auch leicht Mythen als Gegenbeispiele nennen oder konstruieren, bei den es nicht darum geht, andere zu manipulieren. Das ist beim Auferstehungsmythos nicht der Fall, solange man in den Mythos mit hineinschmuggelt, dass eine bestimmte irdische Lebensweise notwendig ist, damit man einen Anteil an der Auferstehung haben kann. Hier wird natürlich der Wunsch des Menschen nach einem längeren Leben und ihre Angst vor dem Tod ausgenutzt, als eine Art Köder. Aber an einem jeden Köder hängt ein Haken, den man mitschluckt: Das in Aussicht gestellte ewige Leben bekommt man nur unter gewissen Voraussetzungen, die alle irgendwie mit Wohlverhalten zu tun haben. Es gibt, als Kontrast dazu, auch Richtungen im Christentum, bei denen das nicht der Fall ist, nämlich bei den Universalisten, etwa den Unitariern. Aber damit kann man kaum erfolgreich eine schwer reiche und mächtige Kirche wie die katholische Kirche aufbauen.

 

Ist es nicht ein bisschen naiv, zu glauben, dass die Kirche nicht vielleicht deswegen auch so mächtig geworden ist, weil sie dafür gesorgt hat, dass der Mythos in dieser Form geglaubt wird?

 

Ich bezweifle, dass dahinter bewusste Absicht steckt. Ich denke, es handelt sich um eine kulturelle Evolution: Wenn es zu Beginn nur zwei Kirchen gegeben hätte, eine Universalistische und die katholische Kirche, welche davon würde heute wohl noch existieren? Doch wohl die, die aus dem Mythos einen Gewinn ziehen kann - nicht eine, die sagt "nun sind alle Menschen erlöst, und das war es". Eine Institution, die einen Mythos okkupieren kann und diesen für ihren eigenen Gewinn mitbenutzen kann, wird einfach viel wahrscheinlicher überleben, und es muss nicht einen einzigen Menschen in dieser Institution geben, der auf diese Idee kommt uns sie bewusst benutzt (was nicht ausschließt, dass es solche gegeben hat).

 

Sie ist von deinem stets einengenden Bild des Glaubens geprägt, das vielleicht aus schlechten Erfahrungen heraus entstanden ist.

 

Eigentlich nicht, ich habe mit dem Glauben durchweg gute Erfahrungen gemacht. Es ist nur so, dass mich Wahrheit mehr interessiert hat als alles andere.

 

Glauben soll den Menschen dagegen befreien, ihm eine geistige Alternative bieten, die ihm von den Zwängen des Alltags, ihm von seinen eigenen Trieben und auch fremdgesteuerten Manipulationen befreien. Dieser hohe Anspruch wird im konkreten Leben meist nicht erreicht. Es ist aber schon ein Fortschritt, wenn der Glauben einen kritikfähig gegenüber sich selbst und den Versuchungen des Lebens macht, wenn er einem mögliche Ziele vor Augen hält, die weit über diese Abhängigkeiten hinausgehen.

 

Es gibt Bedingungen, unter denen das funktionieren kann. Man wird sie aber nicht in Kirchen finden können, die sich sehr erfolgreich ausgebreitet haben - je erfolgreicher, umso unwahrscheinlicher. Ich halte es da eher mit der Bibel: "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen". Nicht: "Ihr werdet den Mythos erkennen, und der Mythos wird euch frei machen". Eher: "Ihr werdet den Mythos durchschauen, und die Wahrheit dahinter wird Euch frei machen". Mythen hören auf, Mythen zu sein, wenn man sie durchschaut.

 

Natürlich kann jeder Text, wenn er bewusst und aufmerksam gelesen oder gar im Glaubenssinn transzendiert wird, einen Menschen geistig manipulieren, aber das lässt sich gar nicht verhindern. Abzulehnen ist Manipulation erst wenn sie alternativlos wird, in Wirklichkeit aber gar nicht ist (Josef gibt immer wieder tolle Beispiele dafür, mit seinem voraufkläererischem Glaubensverständnis und Gehorsamsedikten).

 

Ich denke, Joseph hat aber durchaus recht: Es mag das Maß abgenommen haben, in dem von Gehorsam die Rede ist, weil auch der Zwang abgenommen hat - niemand wird mehr zum Glauben gezwungen, von kleinen Kindern mal abgesehen. Aber jemandem etwas unbesehen zu glauben und daraus Konsequenzen für seine eigenen Handlungen zu ziehen ist ein Akt des Gehorsams, ob man das nun gut findet oder nicht, ob das nun wahr ist was man glaubt oder nicht.

 

Popper hat das in seiner Jugendzeit mal sehr schön demonstriert: Damals hieß es, die Juden seien feige. Man konnte nun, wie die Mehrheit seiner Mitbürger, das einfach "unbesehen" glauben. Das ist, ob das nun wahr ist oder nicht, ob Juden nun feige sind oder nicht, Autoritätsgläubigkeit. In diesem Fall etwa den Nazis und Rechtskonservativen gegenüber. Dasselbe gilt auch für eine demokratische Mehrheit: Keine demokratische Mehrheit hat in Sachen Wahrheit eine Autorität. Es war damals so, dass dies wohl die Mehrheit geglaubt hat. Man kann sagen, dass es den Mythos gab, dass der Jude feige sei (Mythen haben nicht immer schöne und moralisch richtige Inhalte - Mythen können gut sein, böse sein, wahr sein, falsch sein etc.). Und was macht Popper? Er ersinnt eine Methode, das nachzuprüfen, und siehe da, der Mythos war falsch: Juden waren überhaupt nicht feige, im Gegenteil (Popper hat schlicht die Anzahl der Tapferkeitsmedaillen gezählt, die im 1. Weltkrieg an jüdische und nichtjüdische Soldaten verliehen worden waren, und die Zahlen ins richtige Verhältnis gesetzt: Es waren prozentual mehr Juden wegen ihrer Tapferkeit ausgezeichnet worden als Nichtjuden). Popper hätte durchaus auch das Gegenteil herausfinden können - interessanterweise wäre in beiden Fällen der Mythos dann keiner mehr gewesen: Entweder, er wird zerstört, weil er die Unwahrheit aussagt (trotzdem haben ihn danach noch viele geglaubt, Popper viel in Ungnade und musste u. a. deswegen vor den Nazis fliehen), oder es stellt sich heraus, dass er wahr ist, aber dann kann man nicht mehr von einem Mythos reden.

 

Was also bedeutet Mythos anders als: Man weiß nicht, ob es wahr ist, aber man sollte danach handeln. Man weiß nicht, ob Juden feige sind oder nicht, aber man sollte sie so behandeln, als ob. Man weiß nicht, ob Jesus auferstanden ist, aber man sollte so handeln, als ob. Mythen haben nie etwas mit Wahrheit zu tun, die einzige Wahrheit, die sie je transportieren können, ist, dass man nicht weiß, was wahr ist. Aus dem, was man nicht weiß, kann man keine Folgerungen ziehen, es ist immer ein Argument aus Ignoranz. Was anderes als Autorität sollte einen dann noch dazu veranlassen, Juden als feige zu brandmarken, oder sich so zu verhalten, als ob Jesus auferstanden sei, und wir es ihm nur nachmachen können, wenn wir uns auf bestimmte Weise verhalten (da steckt ja noch einiges mehr drin)?

 

Die Wahrheit braucht keinen Mythos - die Wahrheit kann für sich selbst stehen. Folglich kann nichts, was eine Mythos braucht, auch wahr sein, und wenn doch, dann bloß aus einem Zufall heraus.

 

Mythen sind da aber ganz anders. Sie sind oft vielfach deutbar und haben doch einen für jeden Menschen mit Gefühl und gesundem Menschenverstand erkennbaren Kern. In dem sie auf die Einsichtsfähigkeit des Menschen setzen, setzen sie auch auf seine Glaubensfreiheit. Mythen sind oft ein Kunstwerk der Sprache ähnlich wie kunstvolle Gemälde. Aufgrund eines natürlichen und eines evolutiv entwickelten ästhetischen Empfinden, können sie Menschen in aller Freiheit ansprechen. Man kann natürlich kommerziellen Modetrends verfallen, die aber letztendlich immer wieder überwunden werden.

 

Mythen sind Kunstwerke - von Menschenhand geschaffen. Sie haben aber unter Umständen einen Zweck, den ich nicht durchschaue. Aber so oder so: Man kann in ihnen nichts anderes erkennen, als dass man etwas nicht weiß. In dieser Hinsicht betrachtet wäre ein Mythos sogar nützlich, als ein Ausdruck davon, was wir alles nicht wissen. Und Ästhetik ist ein schlechter Ersatz für Wahrheit.

 

Mythen sind eine bereits in den frühesten Texten der Menschheit stark vertretene Kunst- und Kommunikationsform. Ihre oft ähnlichen Weisheiten entsprangen wirklich keinem globalen Manipulationsinteresse (das gab es nicht und wäre auch technisch gar nicht möglich gewesen), sondern lassen sich eher als eine Ausdrucksform natürlichen menschlichen Denkens interpretieren. Meine Frage bleibt: Warum sollte man darin so schlimme Verschwörungstheorien sehen, wie du sie immer wieder verbreitest? Übersiehst du nicht aus Angst jemand könnte dich manipulieren, alles Schöne und Wichtige, was dir andere Menschen vermitteln können?

 

Wenn es schön und wichtig ist, dann kann ich es auch ohne Mythos sehen.

 

Außerdem ist es keine Verschwörungstheorie, weil sich keine "dunkle, geheime Macht" zusammengefunden hat, um sich gegen die Menschen zu verschwören, sondern dass Mythen zur Manipulation benutzt wurden ist offensichtlich. Und solange Du nicht weißt, was hinter einem Mythos steckt, weißt Du auch nicht, ob er nicht einem anderen Zweck dient als Du glaubst.

 

Wie Mythen funktionieren kann man sehr gut in dem Buch von Boyer nachlesen: "Und Mensch schuf Gott". Sie haben eben noch ein paar mehr Effekte als die meisten denken. Einer der unbedachten Effekte ist: Welche Mythen werden überhaupt weitergegeben und aus welchem Grund? Um das zu verstehen muss man wiederum wissen, wie unser Gedächtnis funktioniert. Die Eigenheiten unseres Gedächtnisses üben einen inhaltlichen Einfluss darauf aus, welche Mythen weitererzählt werden. Deswegen braucht man auch keine Verschwörungstheorie, um zu erklären, wieso der Mythos von Jesus Auferstehung weitergegeben wurde.

 

Ich gebe aber zu: Wenn man es sehr knapp erklärt, dann hört es sich an wie eine Verschwörungstheorie.

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"Mythen formulieren kulturspezifisch den Versuch des Menschen, seine intuitiven Ideen über den menschlichen Geist und seine Umgebungen sowie eine nur vage wahrgenommene Wahrheit über sein innersten Wesen auszudrücken. So helfen uns Mythen mehr über unsere spirtuelle Herkunft zu entdecken und vielleicht auch einige der Fehler zu bemerken, die in der modernen Entwicklung der Welt stecken. Das Studium der Mythen braucht nicht länger als Flucht vor der Realität in die Phanatsiewelt primitiver Völker gesehen zu werden, sondern vielmehr als die Suche nach einem tieferen Verständnis des menschlichen Geistes"

(Ellis Davidson, Gods and Myths, Übersetzung von mir)

 

Richtig, Mythen verraten ziemlich viel über den menschlichen Geist, und wie er verstanden wurde. Sie verraten, nebenbei, auch noch einiges über die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses - die Mnemotechnik benutzt die Kunst der Mythen, damit man sich eine schier unvorstellbare Menge an Dingen merken kann.

 

Wenn man wissen will, was und wie die Menschen über ihre Welt gedacht haben, muss man ihre Mythen studieren.

 

Wenn man wissen will, wie die Welt ist, muss man allerdings Physik studieren.

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GermanHeretic
Wenn man wissen will, was und wie die Menschen über ihre Welt gedacht haben, muss man ihre Mythen studieren.

Zum Teil. Mythen sind nicht einfach nur Geschichten oder Weltmodelle. Sie sind ethisch in einen kulturellen Kontext eingebunden. Man kann den Mythen durchaus entnehmen, was richtig und falsch (im Sinne einer moralischen Norm) ist. Und vielleicht ist das ja eine brauchbare Definition von "Glaube": Das Akzeptieren des kulturellen Ethos hinter einem Mythos.

 

Wenn man wissen will, wie die Welt ist, muss man allerdings Physik studieren.

Das sowieso.

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...

Und vielleicht ist das ja eine brauchbare Definition von "Glaube": Das Akzeptieren des kulturellen Ethos hinter einem Mythos.

...

 

Fast hätte ich geschrieben, dass ich die Definition für sehr brauchbar halte. Das hätte ich aber zurücknehmen müssen, denn Glaube bedeutet wohl wesentlich mehr als Akzeptieren und andererseits erlebe ich durchaus Formen von "Glauben", die das kulturelle Ethos geradezu leugnen.

 

Vorschlag: Das Akzeptieren des kulturellen Ethos hinter den Mythen ist eine brauchbare Haltung zum Glauben. Die Haltung kann den Glauben umfassen, ihn aber auch dort ablehnen, wo er dem kulturellen Ethos widerspricht.

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Long John Silver
Ich sehe den Unterschied nicht, der sich für das Leben eines Menschen ergibt, wenn er sich gläubig hineinbegibt und wenn er dies unterlässt. Ich meine auch, dass dieser Unterschied offenbar werden müsste, wenn diejenigen, die glauben, mehr Kraft und Wissen für ihr richtiges Tun und Wachsen erfahren. Die Gläubigen müssten bessere Menschen sein, oder jedenfalls eher in der Lage, ihr Leben besser zu führen. Ich bestreite nicht, dass viele Gläubige dazu fähig sind und ihnen dies auch gelingt. Das gilt aber für Ungläubige ebenso, wie es auf beiden Seiten auch viele gibt, denen es eben misslingt.

 

Da muss ich antworten – fuer mich macht es Unterschied und zwar existenziell, ob ich mich glaeubig hineinbegebe oder nicht, weil es eine existenzielle Entscheidung ist, die den Lebensentwurf und die Sicht auf das eigene Leben und die eigene Existenz betrifft. Allerdings geht es mir nicht um „mehr Kraft und Wissen“, ich bin froh, wenn ich ueberhaupt Kraft bekomme. Und da hat fuer mich der der Weg der Religion als tragfaehig und kraftspendend herausgestellt und darum ist er die Option, die ich weiter verfolge. Mein Blick richtet sich ueberhaupt nicht darauf, wie Unglaeubige leben oder was ihnen misslingt oder gelingt oder was fuer sie gilt oder nicht gilt. Glaube ist fuer mich kein Anliegen, um ein besserer Mensch zu werden oder ein besseres Leben zu fuehren, mein Anliegen ist, ueberhaupt als Mensch zu leben und Leben zu bewaeltigen. Und da ist fuer mich Religion, mein Glaube, die einzig mir aus Erfahrung richtig erscheinende Ueberlebenstrategie.

 

Ich denke uebrigens, dass es auch fuer eine Reihe anderer Menschen einen grossen Unterschied machen wuerde, ob ich weiter diesen Weg gehe oder ob ich diese Kraftquelle verlieren.

 

Jedenfalls - ich moechte kein besserer Mensch werden, ich moechte Ich sein, darin sehe ich meine Aufgabe. Und da ist fuer mich Hilfe, wie auch Ennasus sie beschreibt durch den Weg biblischer Texte, einer der Hilfen, auf die ich voellig vertraue. Es gibt noch andere Hilfen, Gebete, Rituale, Gemeinschaft, das mir durch Religion zugaenglich ist, und das nehme ich in Anspruch.

bearbeitet von Long John Silver
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GermanHeretic
Fast hätte ich geschrieben, dass ich die Definition für sehr brauchbar halte. Das hätte ich aber zurücknehmen müssen, denn Glaube bedeutet wohl wesentlich mehr als Akzeptieren und andererseits erlebe ich durchaus Formen von "Glauben", die das kulturelle Ethos geradezu leugnen.

 

Vorschlag: Das Akzeptieren des kulturellen Ethos hinter den Mythen ist eine brauchbare Haltung zum Glauben. Die Haltung kann den Glauben umfassen, ihn aber auch dort ablehnen, wo er dem kulturellen Ethos widerspricht.

Man muß dabei bedenken, daß wir gerade heute keine so allgemein gültige Kultur mehr haben. Der kulturelle Kontext kann durchaus eine Subkultur sein.

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Fast hätte ich geschrieben, dass ich die Definition für sehr brauchbar halte. Das hätte ich aber zurücknehmen müssen, denn Glaube bedeutet wohl wesentlich mehr als Akzeptieren und andererseits erlebe ich durchaus Formen von "Glauben", die das kulturelle Ethos geradezu leugnen.

 

Vorschlag: Das Akzeptieren des kulturellen Ethos hinter den Mythen ist eine brauchbare Haltung zum Glauben. Die Haltung kann den Glauben umfassen, ihn aber auch dort ablehnen, wo er dem kulturellen Ethos widerspricht.

Man muß dabei bedenken, daß wir gerade heute keine so allgemein gültige Kultur mehr haben. Der kulturelle Kontext kann durchaus eine Subkultur sein.

 

Ja.

 

Mein Vorschlag übersieht auch, dass das "kulturelle Ethos" nicht zwingend wünschenswerte Ziele oder Zwecke verfolgen muss. Es kann auch ein ganz widerwärtiges Ethos zu Grunde liegen. Dann kann zwar ein "Glaube" immer noch auch dieses widerwärtige Ethos umfassen, das möchte ich aber nicht mehr schlicht als Glaube akzeptieren sondern müsste es ablehnen, obwohl Ethos und Glaube kongruent sind.

 

Es hilft nichts. Die ethischen Vorstellungen bedürfen einer anderen Rechtfertigung als einer aus dem Glauben oder in der Akzeptanz von Mythen.

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Man könnte ja auch leicht Mythen als Gegenbeispiele nennen oder konstruieren, bei den es nicht darum geht, andere zu manipulieren. Das ist beim Auferstehungsmythos nicht der Fall, solange man in den Mythos mit hineinschmuggelt, dass eine bestimmte irdische Lebensweise notwendig ist, damit man einen Anteil an der Auferstehung haben kann. Hier wird natürlich der Wunsch des Menschen nach einem längeren Leben und ihre Angst vor dem Tod ausgenutzt, als eine Art Köder. Aber an einem jeden Köder hängt ein Haken, den man mitschluckt: Das in Aussicht gestellte ewige Leben bekommt man nur unter gewissen Voraussetzungen, die alle irgendwie mit Wohlverhalten zu tun haben.
Lieber Volker,

gut, wenn du dich von der extremen Annahme des Mythos ausschließlich zum Zweck der Manipulation distanzierst. Aus der retrospektiven Sicht, dass sich etwas durchgesetzt hat und dabei Mythen mehr oder weniger hilfreich waren, den gezielten Einsatz für was auch immer zu konstruieren, halte ich eher für das Denken moderner Werbestrategen, aber nicht antiker oder gar prähistorischer Menschen, bei denen es solche Mythen offenbar auch schon gegeben hat. Ich sehe hier vielmehr den Versuch zur Welterklärung im Kampf zwischen gut und böse. Hinzu kommen konkurrierende Kulturen, von denen man sich durch Mythen eine eigene Identität geben konnte. Wer solches in einer Gruppe für diese leisten konnte, hatte das Ziel seine eigene Position zu festigen.

 

Dass dabei eine unbekannte Wahrheit durch eine geschickt gewählten Erklärung ersetzt wurde, galt damals nicht als unmoralisch, sondern als klug und weitsichtig. Eine naturwissenschaftlich zuverlässigen Zugang zur Wahrheit kannte man nicht und er ist auch für die ganzheitlichen Wahrheiten, die hiermit ausgedrückt werden sollten, vielleicht bis heute durch Mythen am besten erschließbar. Zur Unwahrheit wird ein Mythos aber dann, wenn er in völliger Unkenntnis oder Ignoranz zur wortwörtlichen Wahrheit erklärt wird und der ursprüngliche symbolische oder übertragener Sinn nicht mehr verstanden wird.

Dass Fundamentalisten mit solchen eigenmächtigen Interpretationen gezielt z.B. in Sekten Macht über die Mitglieder gewinnen, kann ich mir dagegen gut vorstellen. Aber das ist ein neuzeitlicher Missbrauch von Mythen oder antiken Texten.

 

Sie ist von deinem stets einengenden Bild des Glaubens geprägt, das vielleicht aus schlechten Erfahrungen heraus entstanden ist.

Eigentlich nicht, ich habe mit dem Glauben durchweg gute Erfahrungen gemacht. Es ist nur so, dass mich Wahrheit mehr interessiert hat als alles andere.

leider scheint dein Wahrheitsbegriff nur weit von dem entfernt zu sein, worum es beim Glauben geht

 

Glauben soll den Menschen dagegen befreien, ihm eine geistige Alternative bieten, die ihm von den Zwängen des Alltags, ihm von seinen eigenen Trieben und auch fremdgesteuerten Manipulationen befreien. Dieser hohe Anspruch wird im konkreten Leben meist nicht erreicht. Es ist aber schon ein Fortschritt, wenn der Glauben einen kritikfähig gegenüber sich selbst und den Versuchungen des Lebens macht, wenn er einem mögliche Ziele vor Augen hält, die weit über diese Abhängigkeiten hinausgehen.

Es gibt Bedingungen, unter denen das funktionieren kann. Man wird sie aber nicht in Kirchen finden können, die sich sehr erfolgreich ausgebreitet haben - je erfolgreicher, umso unwahrscheinlicher. Ich halte es da eher mit der Bibel: "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen". Nicht: "Ihr werdet den Mythos erkennen, und der Mythos wird euch frei machen". Eher: "Ihr werdet den Mythos durchschauen, und die Wahrheit dahinter wird Euch frei machen". Mythen hören auf, Mythen zu sein, wenn man sie durchschaut.

Viel deutlicher konntest du deine allein auf Verschwörung und Missbrauch augerichtete Interpretation von Mythen nicht ausdrücken. Die Vorstellung, dass Mythen eine Sprachen sind, die vielleicht sogar viel effektiver als unsere heutige Sprache, ewige philosophische Wahrheiten vermitteln können, scheinst du aber völlig auszuschließen. Selbst moderne Romane können obwohl frei erfunden mit eine kunstvollen Entwurf und Sprache Menschen in transzendente Wahrheiten einführen. Bei dir scheint dagegen immer nur die plumpe moderne Nachrichtensprache zu existieren, die entweder eine wahre Begebenheit oder eine nicht stattgefundene Lüge kennt. Die Welt, speziell die geistig abstrakte Welt ist nicht so einfach.

 

Wenn es schön und wichtig ist, dann kann ich es auch ohne Mythos sehen.

Außerdem ist es keine Verschwörungstheorie, weil sich keine "dunkle, geheime Macht" zusammengefunden hat, um sich gegen die Menschen zu verschwören, sondern dass Mythen zur Manipulation benutzt wurden ist offensichtlich. Und solange Du nicht weißt, was hinter einem Mythos steckt, weißt Du auch nicht, ob er nicht einem anderen Zweck dient als Du glaubst.

 

Wie Mythen funktionieren kann man sehr gut in dem Buch von Boyer nachlesen: "Und Mensch schuf Gott". Sie haben eben noch ein paar mehr Effekte als die meisten denken. Einer der unbedachten Effekte ist: Welche Mythen werden überhaupt weitergegeben und aus welchem Grund? Um das zu verstehen muss man wiederum wissen, wie unser Gedächtnis funktioniert. Die Eigenheiten unseres Gedächtnisses üben einen inhaltlichen Einfluss darauf aus, welche Mythen weitererzählt werden. Deswegen braucht man auch keine Verschwörungstheorie, um zu erklären, wieso der Mythos von Jesus Auferstehung weitergegeben wurde.

Ich gebe aber zu: Wenn man es sehr knapp erklärt, dann hört es sich an wie eine Verschwörungstheorie.

Dein letzter Satz scheint mir zumindest einen kleinen Rest an Zweifel bei dir erkennen zu lassen. Es wäre doch möglich, dass deine ganze Theorie über den Mythos mehr oder weniger selbst ein Mythos in deinem Sinne ist.

 

Meine Vorstellung ist z.B. völlig deckungsgleich mit der Ansicht, dass Religion in einer geistig-kulturellen Evolution entwickelt und dass dabei die Weitergabe von Mythen durchaus eine Rolle spielen. Das hat aber überhaupt nichts damit zu tun, dass der Mensch Gott schuf, sondern Gott ist in dieser Welt eine ganz natürliche Erklärung, auf die jedes intelligente Wesen im Rahmen der Evolution stoßen wird. Daher ist es umgekehrt, Gott schuf eine Welt in der ein religionsbefähigter Geschöpf wie der Mensch nach angemessener Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit entstehen.

 

Mit freundlichen Grüßen

vom Zwilling

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Man könnte ja auch leicht Mythen als Gegenbeispiele nennen oder konstruieren, bei den es nicht darum geht, andere zu manipulieren. Das ist beim Auferstehungsmythos nicht der Fall, solange man in den Mythos mit hineinschmuggelt, dass eine bestimmte irdische Lebensweise notwendig ist, damit man einen Anteil an der Auferstehung haben kann. Hier wird natürlich der Wunsch des Menschen nach einem längeren Leben und ihre Angst vor dem Tod ausgenutzt, als eine Art Köder. Aber an einem jeden Köder hängt ein Haken, den man mitschluckt: Das in Aussicht gestellte ewige Leben bekommt man nur unter gewissen Voraussetzungen, die alle irgendwie mit Wohlverhalten zu tun haben.
Lieber Volker,

gut, wenn du dich von der extremen Annahme des Mythos ausschließlich zum Zweck der Manipulation distanzierst.

 

Genauer: Diese Ansicht habe ich nie geäußert, deswegen habe ich das "u. a." nochmal extra betont.

 

Aus der retrospektiven Sicht, dass sich etwas durchgesetzt hat und dabei Mythen mehr oder weniger hilfreich waren, den gezielten Einsatz für was auch immer zu konstruieren, halte ich eher für das Denken moderner Werbestrategen, aber nicht antiker oder gar prähistorischer Menschen, bei denen es solche Mythen offenbar auch schon gegeben hat. Ich sehe hier vielmehr den Versuch zur Welterklärung im Kampf zwischen gut und böse. Hinzu kommen konkurrierende Kulturen, von denen man sich durch Mythen eine eigene Identität geben konnte. Wer solches in einer Gruppe für diese leisten konnte, hatte das Ziel seine eigene Position zu festigen.

 

Es ist gleichgültig, wie die Menschen darüber denken: Mythen mit bestimmten Eigenschaften setzen sich durch. Das hat auch nichts mit "gut oder böse" zu tun.

 

Dass Mythen vielfältige Funktionen haben - z. B. Identität stiften können - habe ich ja mit dem Beispiel Wilhelm Tell belegt. Tell ist ein Mythos, aber er hat funktioniert.

 

Dass dabei eine unbekannte Wahrheit durch eine geschickt gewählten Erklärung ersetzt wurde, galt damals nicht als unmoralisch, sondern als klug und weitsichtig. Eine naturwissenschaftlich zuverlässigen Zugang zur Wahrheit kannte man nicht und er ist auch für die ganzheitlichen Wahrheiten, die hiermit ausgedrückt werden sollten, vielleicht bis heute durch Mythen am besten erschließbar. Zur Unwahrheit wird ein Mythos aber dann, wenn er in völliger Unkenntnis oder Ignoranz zur wortwörtlichen Wahrheit erklärt wird und der ursprüngliche symbolische oder übertragener Sinn nicht mehr verstanden wird.

 

Das war übrigens genau die Kritik der Heiden an der Auferstehung von Jesus: Nämlich, dass die Christen den Mythos vom sterbenden und auferstehenden Gott wörtlich genommen haben, statt darin ein Sterben und Wiederauferstehen der Natur zu sehen, ein Sinnbild, ein Symbol, wie es in den Mysterienkulten üblich war (nur die Ungebildeten haben das wörtlich verstanden, was bedeutet, dass die gebildeten Heiden die Christen für ungebildet gehalten haben!).

 

Es gab damals ja eine Fülle von Mythen, bei denen ein sterbender und wiederauferstehender Gott (oder Sohn Gottes) die zentrale Figur war. Nur war den (gebildeten) Heiden die Bedeutung des Mythos völlig bekannt. Die gebildeten Heiden waren schon damals, was Mythen angeht, den Christen weit voraus. Sie wussten auch, dass der Mythos etwas abgebildet hat, was tatsächlich der Fall war, und sie kannten diese Tatsachen. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass man jetzt halbherzig zur heidnischen Interpretation der Mythen zurückkehrt. Halbherzig, weil man heute versucht, mit dem Mythos von Tatsachen abzusehen.

 

Dass Fundamentalisten mit solchen eigenmächtigen Interpretationen gezielt z.B. in Sekten Macht über die Mitglieder gewinnen, kann ich mir dagegen gut vorstellen. Aber das ist ein neuzeitlicher Missbrauch von Mythen oder antiken Texten.

 

Wie man an der Kritik von Celsus und Porphyrios sehen kann, wurde dieser Vorwurf aber schon damals erhoben. Diese Kritik ist nicht neu, sie wurde nur unterdrückt.

 

Sie ist von deinem stets einengenden Bild des Glaubens geprägt, das vielleicht aus schlechten Erfahrungen heraus entstanden ist.

Eigentlich nicht, ich habe mit dem Glauben durchweg gute Erfahrungen gemacht. Es ist nur so, dass mich Wahrheit mehr interessiert hat als alles andere.

leider scheint dein Wahrheitsbegriff nur weit von dem entfernt zu sein, worum es beim Glauben geht

 

Beim Glauben geht es nicht um Wahrheit - Wahrheit benutzt man nur als schmückenden Begriff, weil es sich so schön anhört! Wahrheit ist definiert als "Übereinstimmung mit den Tatsachen", und damit hat Glauben oder auch Mythos nichts zu tun. Dass man meint, damit irgendwie "höhere Wahrheiten" auszudrücken, ist die moderne Variante, auf so eine absurde Idee sind nicht einmal die Heiden gekommen. Wobei ich damit jetzt den alten Heiden wohl Unrecht tue.

 

Es gibt Bedingungen, unter denen das funktionieren kann. Man wird sie aber nicht in Kirchen finden können, die sich sehr erfolgreich ausgebreitet haben - je erfolgreicher, umso unwahrscheinlicher. Ich halte es da eher mit der Bibel: "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen". Nicht: "Ihr werdet den Mythos erkennen, und der Mythos wird euch frei machen". Eher: "Ihr werdet den Mythos durchschauen, und die Wahrheit dahinter wird Euch frei machen". Mythen hören auf, Mythen zu sein, wenn man sie durchschaut.

Viel deutlicher konntest du deine allein auf Verschwörung und Missbrauch augerichtete Interpretation von Mythen nicht ausdrücken. Die Vorstellung, dass Mythen eine Sprachen sind, die vielleicht sogar viel effektiver als unsere heutige Sprache, ewige philosophische Wahrheiten vermitteln können, scheinst du aber völlig auszuschließen.

 

Philosophische Wahrheiten haben immer den Vorteil, dass man sie auch als philosophische Wahrheiten ausdrücken kann. Das wussten die Heiden schon, man kann den Mythos immer mit dem Verweis auf tatsächliche Gegebenheiten auflösen, etwa auf die Natur. Die effektivste Form, philosophische Wahrheiten auszudrücken, ist nun mal, sie als solche zu formulieren.

 

Das ist wie mit Metaphern: Man kann jede Metapher auch immer als eine Reihe von Tatsachen ausdrücken - es ist nur meistens umständlicher. Man kann jedes Symbol in das übersetzen, wofür es steht, sonst ist das Symbol sinnlos (es steht für nichts). Symbole, die man nicht übersetzen kann, sind so wertlos wie eine Sprache, die man nicht übersetzen kann: man weiß nicht, wovon da geredet wird. In der Physik wird heutzutage ja auch alles in einer Symbolsprache ausgedrückt (Mathematik), man kann diese Symbole nach festen Regeln manipulieren und neue Erkenntnisse gewinnen, in dem man die Symbole nach der regelhaften Transformation rückübersetzt. Maxwell hat über Gleichungen zeigen können, dass die elektrische Kraft und die magnetische Kraft letztlich dasselbe sind und so die elektromagnetische Natur des Lichts entdeckt. Einstein hat damit herausgefunden, dass Raum und Zeit dasselbe sind, oder Materie und Energie - das hat zu Voraussagen geführt, die sich dann später bestätigt haben. Aber bis zur Bestätigung durch Experimente wusste man nicht, ob die Ergebnisse auch wirklich stimmen!

 

Was für einen Wert hat also eine Symbolsprache, die man nicht auch ohne Symbole ausdrücken kann, in dem man die Symbole übersetzt? Im Mythos führen heute die Symbole ein Eigenleben, und jeder übersetzt sie sich so, wie er es für richtig hält.

 

 

 

Selbst moderne Romane können obwohl frei erfunden mit eine kunstvollen Entwurf und Sprache Menschen in transzendente Wahrheiten einführen. Bei dir scheint dagegen immer nur die plumpe moderne Nachrichtensprache zu existieren, die entweder eine wahre Begebenheit oder eine nicht stattgefundene Lüge kennt. Die Welt, speziell die geistig abstrakte Welt ist nicht so einfach.

 

Es gibt nur Wahrheiten, was "transzendente Wahrheiten" sein sollen, hat m. E. noch nie jemand wirklich erklären können. Und was die Romane an Wahrheiten ausdrücken, kann man auch ganz profan ausdrücken - es ist dann nur weniger ästhetisch. Die eigentliche Leistung von Romanen besteht darin, Wahrheiten auf sehr schöne und ansprechende Weise auszudrücken, die man ohne dieses nur weniger schön und weniger ansprechend sagen könnte. Aber man könnte sie auch ohne Roman sagen. Ebenso, wie man die Ergebnisse der Relativitätstheorie für Laien auch ohne Formeln erklären kann, nur was man mit einer Formel in einer Zeile sagt, benötigt dann viele Seiten Erklärung - mühselig, aber machbar.

 

Was ein Mythos über die Transzendenz aussagen soll, kann hingegen niemand sagen.

 

Wenn es schön und wichtig ist, dann kann ich es auch ohne Mythos sehen.

Außerdem ist es keine Verschwörungstheorie, weil sich keine "dunkle, geheime Macht" zusammengefunden hat, um sich gegen die Menschen zu verschwören, sondern dass Mythen zur Manipulation benutzt wurden ist offensichtlich. Und solange Du nicht weißt, was hinter einem Mythos steckt, weißt Du auch nicht, ob er nicht einem anderen Zweck dient als Du glaubst.

 

Dein letzter Satz scheint mir zumindest einen kleinen Rest an Zweifel bei dir erkennen zu lassen. Es wäre doch möglich, dass deine ganze Theorie über den Mythos mehr oder weniger selbst ein Mythos in deinem Sinne ist.

 

Diese Möglichkeit muss ich immer einräumen. Aber man kann es herausfinden, denn dieser Mythos steht nicht für sich selbst, sondern drückt reale Vorgänge in einer realen Welt aus. Und daran kann man ihn messen.

 

Meine Vorstellung ist z.B. völlig deckungsgleich mit der Ansicht, dass Religion in einer geistig-kulturellen Evolution entwickelt und dass dabei die Weitergabe von Mythen durchaus eine Rolle spielen. Das hat aber überhaupt nichts damit zu tun, dass der Mensch Gott schuf, sondern Gott ist in dieser Welt eine ganz natürliche Erklärung, auf die jedes intelligente Wesen im Rahmen der Evolution stoßen wird. Daher ist es umgekehrt, Gott schuf eine Welt in der ein religionsbefähigter Geschöpf wie der Mensch nach angemessener Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit entstehen.

 

Aber dazu müsste man wissen, wie sich Mythen "fortpflanzen". Genau das hat Pascal Boyer untersucht - und das liegt u. a. daran, dass er einerseits Anthropologe ist und andererseits Psychologe, ein Experte für menschliches Gedächtnis. Das ist die ideale Kombination, um die Evolution von Mythen zu untersuchen. Und so, wie nichts in der Biologie einen Sinn ergibt, ohne die Evolution, ist es auch mit der Evolution menschlicher Mythen: Nichts ergibt dort einen Sinn, es sei denn, man untersucht die Evolution der Mythen. Boyer hat ja durchaus eine schlüssige Theorie über die Evolution der Mythen vorgelegt, und vor allem, er kann sie experimentell stützen - Boyer nennt das etwas scherzhaft "experimentelle Theologie".

 

Nun bin ich zwar kein Anthropologe, aber zufällig ein Psychologe mit genauer Kenntnis des menschlichen Gedächtnisses, auch in praktischer Hinsicht (ich bin Mentalist mit dem Schwerpunkt Gedächtniskunst). Ich fand die Genialität von Boyer unbeschreiblich, ich habe nie zuvor etwas über Religion gelesen, was bei mir so viele Erkenntnisse ausgelöst hat - inklusive der Bibel und allem anderen (leider ist die deutsche Übersetzung des Buches schwach, Boyer hat sein Ursprungswerk auf französisch geschrieben, das wurde ins Englische übersetzt unter dem Titel "Religion Explained", und das hat man dann wieder ins Deutsche rückübersetzt, nur den Titel hat man aus dem Französischen übernommen, nämlich "Und Mensch schuf Gott").

 

In der Bibel steht, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild erschuf - muss man da nicht stutzig werden und sich fragen, ob es nicht auch umgekehrt gewesen sein könnte? Auf die Idee ist ganz grob schon Jean Meslier gekommen, und nach ihm Ludwig Feuerbach. Da war es aber nur eine Vermutung, bei Boyer ist es mehr als das, es ist eine experimentell überprüfbare Theorie, die schon erfolgreich angewendet wurde, etwa, um die Herkunft von Ritualen zu erklären (ja, und diese Erklärung wurde dann mit den Methoden von Boyer experimentell überprüft).

 

Ich bin übrigens gerne bereit, aus meiner "Enzyklopädie der Mnemotechnik" die Passagen daraus mal zu zitieren.

 

Aber, übrigens, dieser Thread trägt den Titel: "Welcher Christ glaubt wirklich noch im engeren Wortsinne?" - und davon sind wir mit den Mythen ganz schön weit abgekommen. Wer die Mythentheorie vertritt, der glaubt offensichtlich nicht mehr im engeren Wortsinne. Einige lassen sich nur die Hintertür offen, dass ihr Glauben diesen engeren Wortsinn mit einschließen würde, einige auch nicht. Es ist aber ganz schön schwer, das herauszubekommen - Mythen können so etwas nämlich auch ganz schön verschleiern. Das scheint mir auch eine Funktion der modernen Auffassung von Mythen zu sein.

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Selbst moderne Romane können obwohl frei erfunden mit eine kunstvollen Entwurf und Sprache Menschen in transzendente Wahrheiten einführen. Bei dir scheint dagegen immer nur die plumpe moderne Nachrichtensprache zu existieren, die entweder eine wahre Begebenheit oder eine nicht stattgefundene Lüge kennt. Die Welt, speziell die geistig abstrakte Welt ist nicht so einfach.
Es gibt nur Wahrheiten, was "transzendente Wahrheiten" sein sollen, hat m. E. noch nie jemand wirklich erklären können. Und was die Romane an Wahrheiten ausdrücken, kann man auch ganz profan ausdrücken - es ist dann nur weniger ästhetisch. Die eigentliche Leistung von Romanen besteht darin, Wahrheiten auf sehr schöne und ansprechende Weise auszudrücken, die man ohne dieses nur weniger schön und weniger ansprechend sagen könnte. Aber man könnte sie auch ohne Roman sagen.

 

Es ist übrigens ein "Mythos" - richtiger: eine falsche Vorstellung -, dass ein moderner Roman frei erfunden sei.

 

Wenn der Roman irgendeine Qualität hat, ist darin gar nichts frei erfunden. Vielmehr benutzt der Roman eine Masse von irgendwo her gesuchten, gesammelten, oder auch nur aufgeschnappten Tatsachen und setzt sie lediglich nach den Vorstellungen des Autors neu zusammen. Die Quellen sind Orte, Personen, Handlungen, Zeitungsartikel, Gerede von Leuten, andere Bücher usw., die neu komponiert werden zu ganz anderen Orten, Personen, Handlungen, Berichten, Dialogen und schließlich zu einem ganzen Buch. Das hat dann kaum noch was mit seinen ursprünglichen Anlässen zu tun, wäre aber ohne die einzelnen Bruchstücke nicht denkbar.

 

Nach dem Erscheinen der Budenbrooks saß halb Lübeck und die ganze Familie Mann auf dem Sofa und war beleidigt, wie sich dieser Kerl anmaßen könne, sie so präzise zu beschreiben. Allerdings meinten viele ganz unterschiedliche Leute in derselben Person "kopiert" worden zu sein, was auch richtig war, denn Mann hat - wie alle bedeutenden Autoren vor und nach ihm - seine Figuren aus ganz unterschiedlichen realen Personen zusammengesetzt. Bei Goethe kommt der Faust aus einer alten Legende, das Gretchen kommt aus einer Gerichtsakte, zu beiden gibt es aber massenhaft andere Zutaten. Über Marcel Prousts Romanfiguren gibt es ganze Handbücher, die für jede Figur den Bezug zu ihren realen Vorbildern (es sind durchweg mehrere, die "Albertine" des Romans besteht z.B. u.a. aus einem einen realen Albert) zu erklären versuchen.

 

Die "Wahrheit" findet man dabei aber nicht, denn kein Mensch kann rekonstruieren, ob nun die Worte einer Figur im Buch, die irgendein oder mehrere "reale" Vorbilder hat, nun von einem Vorbild stammen, oder oder ob das ganz jemand anderes war, z.B. der Autor selbst, der sie zuerst ausgesprochen hat, oder eine Vielzahl von Personen und die Worte wiederum nur zusammengesetzt sind. Es nützt auch gar nichts, eine solche "Wahrheit" rekonstruieren zu wollen, weil sie nicht drin ist. Der Autor kennt sie nicht, er hat nur sein Verfahren, alles irgendwie so zu komponieren, dass es eine Erzählung ergibt. Die Erzählung insgesamt ergibt auch keine Wahrheit, man kann sie erst Recht nicht durch einfachere Worte ausdrücken, denn das hätte entweder gar nichts mehr mit dem Buch zu tun oder es ergibt eine ganz neue Erzählung, die wiederum nur Kunst ist und eben keine Wahrheit. Die guten Bücher haben allerdings die Eigenschaft, dass sie uns vorkommen, wie eine ganz andere Welt der Phantasie und sie leben dadurch unabhängig von dem Material, aus dem sie gebaut sind, fort.

 

Mein Verdacht ist, dass die Bibel ganz genau so zu lesen ist und ihr Erfolg darauf beruht, dass es einer Vielzahl von Autoren über Jahrhunderte hinweg gelungen ist, Erzählungen auf diese Weise zusammenzustellen, die irgendwie noch miteinander zusammenhängen. Der Versuch, aus der Bibel irgendeine Wahrheit herauslesen zu wollen, ist vermutlich gegenüber den Autoren höchst ungerecht, weil es ihre Leistung schmälert.

 

Vielleicht wäre Thomas Manns Aufsatz "Bilse und ich", in dem er sich dagegen wehrt, seine Figuren seien nur von der Realität abgekupfert, für die Bibelkritik und die "Entmythologisierung" der Religion, die durch sie begründet wurde, sehr aufschlussreich. Aber das ist ein weites Feld.

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Es ist gleichgültig, wie die Menschen darüber denken: Mythen mit bestimmten Eigenschaften setzen sich durch. Das hat auch nichts mit "gut oder böse" zu tun.
Wer einen bis heute von vielen Menschen bewunderten Literaturstil ausschließlich als Mittel vordergründiger Zwecke darstellt, ist nicht nur einseitig, sondern dem fehlt m.E. jegliche Sensibilität für künstlerischen Ausdruck. Der Zusammenhang früher Mythen mit der Vermittlung von gut und böse kann man in jedem besseren Lehrbuch für Vor- und Frühgeschichte nachlesen. Das Böse wurde nicht, wie in modernen Kriminalromanen wissenschaftlich analysiert, sondern wurde in seinem inneren und äußeren Ausdruck und Symbolik dargestellt, um Menschen in die zugehörige Aura einzuführen und zu sensibilisieren. Deine Betrachtungsweise von Mythen ist dagegen völlig exotisch, so als würde ein Mathematiker versuchen Lyrik in seine Formelsprache umzusetzen.

 

leider scheint dein Wahrheitsbegriff nur weit von dem entfernt zu sein, worum es beim Glauben geht
Beim Glauben geht es nicht um Wahrheit - Wahrheit benutzt man nur als schmückenden Begriff, weil es sich so schön anhört! Wahrheit ist definiert als "Übereinstimmung mit den Tatsachen", und damit hat Glauben oder auch Mythos nichts zu tun. Dass man meint, damit irgendwie "höhere Wahrheiten" auszudrücken, ist die moderne Variante, auf so eine absurde Idee sind nicht einmal die Heiden gekommen. Wobei ich damit jetzt den alten Heiden wohl Unrecht tue.
Beim Glauben geht es fast ausschließlich um Wahrheit, zumindest für die Menschen, denen Glauben im Gegensatz zu dir etwas bedeutet. Dein Wahrheitsbegriff ist dagegen exakt der unserer heutigen reduktionistischen Naturwissenschaft, wie er kaum älter als 300 Jahre in Köpfen von Menschen existieren dürfte. Zu glauben, dass alle Menschen die in einigen 1000 Jahre voher von Wahrheit gesprochen haben und dafür dieses Wort erfunden haben, was ganz anderes gemeint haben, ist eine selten dumme historische Anmaßung. (Entschuldige, wenn ich das hier einmal so drastisch sagen muss, um dir deine Blindheit auf diesem Gebiet wenigstens eine bisschen bewusst zu machen).
Philosophische Wahrheiten haben immer den Vorteil, dass man sie auch als philosophische Wahrheiten ausdrücken kann. Das wussten die Heiden schon, man kann den Mythos immer mit dem Verweis auf tatsächliche Gegebenheiten auflösen, etwa auf die Natur. Die effektivste Form, philosophische Wahrheiten auszudrücken, ist nun mal, sie als solche zu formulieren.
Was sollen solche Wortklaubereichen ohne den geringsten sittlichen Nährwert? Solange du dich offenbar um jeglichen abstrakten Begriff im Zusammenhang mit Wahrheit drückst, also nur konkrete Naturgegebenheiten als tatsächlich anzuerkennen scheinst, ist die Verwendung des Worts Philosophie in diesen Zusammenhang ein Hohn angesichts der ignoranten Blildheit für die abstrakte Hälfte unserer geistigen Welt. Das kannst du doch nicht ernsthaft meinen?
Man kann jedes Symbol in das übersetzen, wofür es steht, sonst ist das Symbol sinnlos (es steht für nichts). Symbole, die man nicht übersetzen kann, sind so wertlos wie eine Sprache, die man nicht übersetzen kann: man weiß nicht, wovon da geredet wird. In der Physik wird heutzutage ja auch alles in einer Symbolsprache ausgedrückt (Mathematik), man kann diese Symbole nach festen Regeln manipulieren und neue Erkenntnisse gewinnen, in dem man die Symbole nach der regelhaften Transformation rückübersetzt. Maxwell hat über Gleichungen zeigen können, dass die elektrische Kraft und die magnetische Kraft letztlich dasselbe sind und so die elektromagnetische Natur des Lichts entdeckt. Einstein hat damit herausgefunden, dass Raum und Zeit dasselbe sind, oder Materie und Energie - das hat zu Voraussagen geführt, die sich dann später bestätigt haben. Aber bis zur Bestätigung durch Experimente wusste man nicht, ob die Ergebnisse auch wirklich stimmen!

 

Was für einen Wert hat also eine Symbolsprache, die man nicht auch ohne Symbole ausdrücken kann, in dem man die Symbole übersetzt? Im Mythos führen heute die Symbole ein Eigenleben, und jeder übersetzt sie sich so, wie er es für richtig hält.

Viel besser kann man die Verabsolutierung des naturwissenschaftlichen Reduktionismus wohl nicht deutlich machen. Die Formelsymbole der Mathematik mit der Symbol- und Bildersprache der Mythen zu vergleichen, haben weder Freud noch Einstein fertig gebracht. Die wussten, dass es auch abstrakte Begriffe gibt, die man nur mit einer nicht konkretisierbaren Symbolik verbinden kann. Wer würde denn auf die Idee kommen, wenn man eine Taube als Symbol für Frieden nimmt, das wegen Mehrdeutigkeit oder angeblicher Ersetzbarkeit durch tatsächliche Bilder zu kritisieren. Da haben ja nicht einmal die in Bildersprache ungeübten heutigen Menschen größere Probleme. Ich bin immer noch fassungslos über deine Ausführungen, insbesondere von einem Psychologen. meinst du das wirklich ehrlich oder hast du dich nur völlig missverständlich ausgedrückt?

 

Aber, übrigens, dieser Thread trägt den Titel: "Welcher Christ glaubt wirklich noch im engeren Wortsinne?" - und davon sind wir mit den Mythen ganz schön weit abgekommen. Wer die Mythentheorie vertritt, der glaubt offensichtlich nicht mehr im engeren Wortsinne. Einige lassen sich nur die Hintertür offen, dass ihr Glauben diesen engeren Wortsinn mit einschließen würde, einige auch nicht. Es ist aber ganz schön schwer, das herauszubekommen - Mythen können so etwas nämlich auch ganz schön verschleiern. Das scheint mir auch eine Funktion der modernen Auffassung von Mythen zu sein.
Ganz im Gegenteil - Unsere heutige verarmte Sprache einer Zeitungsberichterstattung verschleiert, womit sich die Menschen früher wesentlich intensiver als wir heute beschäftigt haben, z.B. mit dem gegenseitigen Umgang untereinander. Daher können Mythen unter anderem in diesem zwischenmenschlichen Bereich uns heute kaum mehr zugängliche Wahrheiten vermitteln, weil wir in diesem Bereich mangels Erfahrung geistig verarmen.

Man denke an die Weisheitsliteratur im alten Testament bis hin zum hohen Lied der Liebe, das für viele Hochzeitspaare Wahrheiten vermittelt, die sie bis dahin in ihrem Leben nicht einmal ansatzweise gehört haben.

 

Daher glaube ich auch ganz im Gegensatz zu dir, dass nur wer sich in Mythen und die Sprache der Bibel ausreichend hineinversetzen kann, den Sinn des Glaubens der Bibel versteht und in diesem Sinne glauben kann. Dass ist aber gerade nicht ein Glaube im engeren Wortsinn. Deswegen ist meine Antwort, auf die Frage im Titel des Threads, dass Christen, die heute im engeren Wortsinn glauben, meist ein fundamentalistisches Weltbild haben.

 

Positiv ausgedrückt heisst das, ein zeitgemäßer christlicher Glaube, der Anspruch auf Glaubwürdigkeit bei akademisch gebildeten Menschen haben möchte, kann sich nur an den Resultaten der aktuellen Exegese orientieren und das heißt, sich gerade nicht am engeren Wortsinn, sondern am ursprünglichen sprachlichen Verständnis der Bibelautoren zu orientieren. Desweiteren müssen natürlich auch Konsequenzen aus dem heute veränderten evolutiven Weltbild gezogen werden. Aussagen, die eindeutig vom veralteten statischen Weltbild der Antike inspiriert sind, müssen entweder ganz gestrichen oder so weit möglich in analoger Weise auf Basis unseres heutigen Weltbilds übertragen werden. Dazu habe ich ja hier schon genügend Beispiele geliefert, auch wenn du die wahrscheinlich genausowenig wie Fundamentalisten akzeptierst, weil das angeblich nicht mehr der ursprüngliche christliche Glaube sei, wie du dich einmal ausgedrückt hast. Ursprünglich und glaubwürdig bleibt ein Glaube aber nur dann, wenn er mit der Veränderung des Weltbilds mitwächst.

 

Mit freundlichen Grüßen

vom Zwilling

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GermanHeretic
Es hilft nichts. Die ethischen Vorstellungen bedürfen einer anderen Rechtfertigung als einer aus dem Glauben oder in der Akzeptanz von Mythen.

Ethische Vorstellungen sindin weiten Teilen genauso eine Konvention wie moralische Normen. Man verständigt sich auf Werte, die einzuhalten sind. Natürlich bewegen sich diese Werte innerhalb der Parameter, die die Spezies Mensch zum Überleben braucht, sprich evolutionär entwicklete Mechanismen, die der Katholik "Naturrecht" nennen mag. Und natürlich bewegen sie sich innerhalb kulktureller Verwicklungen, die einem von klein auf beigebracht werden, sodaß man sie für selbstverständlich hält. Vor dem Hintergrund brauchen sie sowenig Rechtfertigung wie die Frage, ob nun Links- oder Rechtsverkehr gilt.

Rechtfertigen muß oder sollte man Änderungen an den Vorstellungen. Wenn man z.B. feststellt, daß manche davon nicht funktionieren oder andere besser.

Ich jedenfalls habe erkannt, welche Mythen zu meinen Vorstellungen passen. Sie begründen sie nicht, sie beschreiben sie - auf die weiter oben genannte Art und Weise.

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Ich denke, dass das ganze Thema der Mythen ein Problem der spontanen Nachvollziehbarkeit ist.

 

Es sind ja Unmengen von Mythen - ich meine moderne Mythen - im Umlauf. Mit diesen zeitgemäßen Mythen gibt es seit jeher einen völlig unproblematischen Umgang.

Volker z.B. ist ein geradezu hervorragendes Beispiel für die Darstellung von Mythen. Seine Rezeption der Erkenntnistheorie ist ja keineswegs rein nüchtern-sachlicher Natur. Sondern mit den vielen Fakten, Erkenntnissen und Schlüssen ruft er innere Vorstellungen vom Wesen der Menschen bzw. vom Wesen der Welt ab. Und er ruft sie nicht nur ab, sondern er formt und prägt hier - und zwar auf ein bestimmtes Menschen- und Weltbild hin. Seines natürlich.

Ein anderes Beispiel wäre Stephen Hawkin. Seine Bücher haben nicht deswegen Erfolg, weil sie naturwissenschaftlich so super sind. Da gibt es naturwissenschaflicherseits einen Haufen Besseres. Aber seine Bücher leisten eben mehr, als nüchterne Analyse. Sie liefern ein erfassbares Weltbild, eine Einordnung des Menschen in den Ablauf der Natur. Und das ist für die Masse der Menschen entscheidend attraktiver und wichtiger, als die rein naturwissenschaftlichen Fakten. Das Mythische ist erfassbar, das wirklich naturwissenschaftliche ist immer trocken, abstrakt. Aber es gelingt ihm, die Sache so darzustellen, als fließe das Weltbild geradezu stringent aus wissenschaftliche Fakten heraus.

 

Noch ein anderes Beispiel wäre Darwin. Das Interesse an seinen Aussagen ist meistens beileibe kein nüchtern-wissenschaftliches. Sondern hier geht es anhand der wissenschaftliche Ergebnisse um eine fasizinierende Einordnung des Lebens, der Entwicklung etc.

 

Die traditionellen Mythen stinken dagegen ab. Kein Wunder: Die mythische Einordnung könnte man (behaupte ich mal) in vielen Punkten mitvollziehen. Sie wäre sogar von vielen Menschen ersehnt. Aber sie präsentiert sich im Gewande überholter und letztlich falscher Erkenntnisse. Der Mythos schwebt frei flottierend über den Fakten. Die Verbindung zwischen Mythos und Realität ist durch bessere Erkenntnisse gestört oder sogar zerstört. Und was interessiert die Menschen schon eine Einordnung, die sich ja doch nicht auf die Wirklichkeit beziehen, sondern mit Beispielen operiert, die in sich nicht stimmig sind.

 

Dahin ist das spontane Erfassen des Mythos. Dauernd stößt man an irgendwelche Grenzen, die sich zwar nicht auf die mythische Aussage, also nicht auf die eigentlich interessante Einordnung des Menschen und seine Wesensaussagen beziehen, aber dafür ununterbrochen und unauflösbar auf die naturwissenschaftliche und lebenserfahrungsmäßige Realität. Man ist so mit der Transposition antiker Vorstellungen in die heutige Sichtweise geprägt, dass man erst gar nicht zum Mythos hingelangt. Das ist schwere Arbeit. Und bis man diese Arbeit geleistet hat, ist der Mythos in ähnlicher Weise entschwunden, wie ein Witz entschwindet, wenn man ihn erst einmal ausführlich erklären muss. Das ist dann nicht mehr witzig.

 

Die Kirche hat einen sehr verhängnisvollen Fehler begangen. Sie hat sich auf die Mythen der Vergangenheit festgelegt. Statt sie als Modell zu verstehen, ein Grundmuster, anhand dessen man immer wieder neue Mythen aufbauen soll, hat sie die alten Mythen repetiert, bis sie der Masse der Bevölkerung so uneinsichtig geworden sind, dass sie witzlos geworden sind. Das ist Ergebnis eines völlig verfehlten Traditionsverständnisses: Tradition als geistlose Wiederholung des Alten, statt als kreativer Prozess, der lebendig in die Zukunft führt. Und heute ernten wir, was durch diese Sichtweise erreicht wurde: Selbst die Repetiertradition bricht ab, wird unzugänglich, unglaubwürdig und damit wertlos. Eine Katastrophe. Man kann einen Giordano Bruno verbrennen, einem Galileo das Maul stopfen, den Zeitgeist anschreien - aber die Entwicklung einer sich entwickelnden Welt kann man eben nicht stoppen.

Schade um den Mythos, dass man so unverantwortlich mit ihm umging.

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Es ist übrigens ein "Mythos" - richtiger: eine falsche Vorstellung -, dass ein moderner Roman frei erfunden sei.

 

Das ist alles sehr richtig, ein sehr interessantes Posting.

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Es ist gleichgültig, wie die Menschen darüber denken: Mythen mit bestimmten Eigenschaften setzen sich durch. Das hat auch nichts mit "gut oder böse" zu tun.
Wer einen bis heute von vielen Menschen bewunderten Literaturstil ausschließlich als Mittel vordergründiger Zwecke darstellt, ist nicht nur einseitig, sondern dem fehlt m.E. jegliche Sensibilität für künstlerischen Ausdruck. Der Zusammenhang früher Mythen mit der Vermittlung von gut und böse kann man in jedem besseren Lehrbuch für Vor- und Frühgeschichte nachlesen. Das Böse wurde nicht, wie in modernen Kriminalromanen wissenschaftlich analysiert, sondern wurde in seinem inneren und äußeren Ausdruck und Symbolik dargestellt, um Menschen in die zugehörige Aura einzuführen und zu sensibilisieren. Deine Betrachtungsweise von Mythen ist dagegen völlig exotisch, so als würde ein Mathematiker versuchen Lyrik in seine Formelsprache umzusetzen.

 

Jetzt gehen zwei Sachen völlig durcheinander: Dass ein Mythos sich durchsetzt und ein anderer nicht, hat nichts mit "gut" oder "böse" zu tun, nichts mit planender Absicht von Menschen. Im Mythos selbst (den weitergebenen wie den untergegangen) kann es natürlich sowohl vorder- als auch hintergründig sehr um gut und böse gehen. Menschen geben bestimmte Mythen weiter (beispielsweise an ihre Nachkommen), weil sie sich an diese Mythen erinnern können (das ist die absolute Voraussetzung: Mythen, an die man sich nicht erinnert, kann man auch nicht weitergeben) und weil diese eine bestimmte "Resonanz" auslösen oder eine wichtige Moral transportieren oder wichtige Informationen weitergeben. Ich würde auch weniger von Mythen als von Geschichten oder Erzählungen reden, der Roman ist eine moderne Variante davon. Eine antike Variante davon ist beispielsweise das griechische Drama, dass sich in erster Linie mit persönlichen Leidenschaften und ihren Folgen beschäftigt.

 

Es gibt auch Mythen oder Geschichten, in denen Informationen weitergegeben werden. Im Amazonas leben Indianerstämme, die ca. 200 Pflanzenarten und mehr kennen, ihr Vorkommen, ihr Aussehen, zu welcher Jahreszeit sie blühen, was sie an Umgebungsbedingungen brauchen, welcher Teil gegen welche Krankheit verwendbar ist und wie man ihn zubereiten muss etc. pp. Wer könnte sich das von uns merken? Wohlgemerkt, die Indianer haben keine Schrift, alle diese Informationen werden an die nächste Generation mündlich weitergegeben. Haben die Indianer ein besseres Gedächtnis als wir?

 

Ach wo, keine Spur. Ihr Gedächtnis ist im Schnitt weder besser noch schlechter als unseres. Das ist eine alte Legende, dass beispielsweise früher das Gedächtnis der Menschen besser war als heute (wird meist behauptet, weil man eine Erklärung dafür benötigt, warum alles von Jesus getreu weitergegeben wurde). Die Indianer merken sich diese Fülle, in dem sie Geschichten erzählen. Sie benutzen im Prinzip dieselbe Methode, mit denen ich in drei Minuten die komplette Reihenfolge eines gemischten Pokerspiels auswendig lerne, oder ein Dominic O'Brien dasselbe mit 54 Pokerspielen macht (aber nicht in drei Minuten!). Ich kann mir auch mühelos eine 50stellige Zahl merken, auf dieselbe Weise.

 

Wir können uns bestimmte Dinge besser merken als andere. Damit wir eine Geschichte behalten können, müssen wir sie der Struktur unseres Gedächtnisses anpassen. Deswegen ändern sich Mythen: Mythen, die weitergegeben wurden, sind erfolgreicher an die Arbeitsweise unseres Gedächtnisses angepasst. Und mit jeder Weitergabe erfolgt ein weiterer Anpassungsprozess, eine Änderung - kurz, eine Evolution. Geschichten, die nicht so gut in unser Gedächtnis passen, verschwinden mit der Zeit, weil ihre Wahrscheinlichkeit, erinnert und weitergegeben zu werden, geringer ist als bei anderen Geschichten.

 

Und so gibt es überlebende und aussterbende Mythen, es gibt Replikation und Variation und Selektion, oder kurz, eine Evolution. Und es gibt Mythen, die zu neuen Mythen zusammengebaut werden - wie UliWerner völlig richtig schrieb, gibt es keine neuen Geschichten, es gibt nur bekannte Versatzstücke, die zu neuen Geschichten zusammengebaut werden, an andere Zeiten angepasst, an andere Orte, an andere Personen. So sind die Evangelien entstanden, und auf die gleiche Weise hat auch Dan Brown "Sakrileg" geschrieben: Er hat alte Mythen genommen und daraus eine neue Geschichte gemacht. Er hat damit übrigens auch eine Moral transportiert, nämlich, dass die Kirche eine böse Unterdrückerin der Wahrheit ist, und dass sie Jesus bloß für ihre Geschichten ausgenutzt hat - ein sehr ironischer Vorwurf, denn er hat dasselbe gemacht. Oder etwa, dass in der Kirche das Weibliche keine große Rolle gespielt hat, und hier erzählt er sogar die Wahrheit, seine Gründe sind bloß abenteuerlich.

 

Jeder Mythos setzt auf einer alten Schicht von Mythen auf, die wiederum auf alten Mythen beruhen usw. usf. Das AT setzt beispielsweise auf dem Gilgamesch-Epos auf und er erzählt es neu. Das NT setzt auf dem AT auf und erzählt es neu plus vieler anderer Geschichten. Wer da nach irgendwelchen Wahrheiten gräbt, gräbt an der falschen Stelle: Es ging immer mehr darum, gute Geschichten zu erzählen, und gut waren dann vor allem die auch, die eine ganz bestimmte Moral transportierten. Im AT ist das deutliche: Das "böse Nordreich" gegen das "gute Südreich" in Israel.

 

Übrigens hat man Wahrheit schon im antiken Griechenland und anderswo als "Übereinstimmung mit den Fakten" angesehen. Das war im antiken Griechenland nicht anders als im antiken Indien oder China oder römischen Imperium. Die Heiden wussten schon, wie man die Grenze zwischen "Mythos" und "Wahrheit" ziehen musste, sie haben es nur nicht immer an der Stelle gemacht, wo wir das heute tun. Aber im Gegensatz zu einigen Christen heute zogen sie überhaupt eine Grenze... Die Grenze mag sogar unscharf sein, wie die zwischen berg und Tal, aber man wäre schon sehr verwirrt, wenn man deswegen Berg und Tal verwechselt.

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Die traditionellen Mythen stinken dagegen ab.
Findest du Odysseus und die Nibelungen wirklich so miefig? :angry2:
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Die Kirche hat einen sehr verhängnisvollen Fehler begangen. Sie hat sich auf die Mythen der Vergangenheit festgelegt. Statt sie als Modell zu verstehen, ein Grundmuster, anhand dessen man immer wieder neue Mythen aufbauen soll, hat sie die alten Mythen repetiert, bis sie der Masse der Bevölkerung so uneinsichtig geworden sind, dass sie witzlos geworden sind. Das ist Ergebnis eines völlig verfehlten Traditionsverständnisses: Tradition als geistlose Wiederholung des Alten, statt als kreativer Prozess, der lebendig in die Zukunft führt. Und heute ernten wir, was durch diese Sichtweise erreicht wurde: Selbst die Repetiertradition bricht ab, wird unzugänglich, unglaubwürdig und damit wertlos. Eine Katastrophe. Man kann einen Giordano Bruno verbrennen, einem Galileo das Maul stopfen, den Zeitgeist anschreien - aber die Entwicklung einer sich entwickelnden Welt kann man eben nicht stoppen.

Schade um den Mythos, dass man so unverantwortlich mit ihm umging.

Man soll natürlich Mythen so weiter geben, dass sie verständlich bleiben. Gleichzeitig kommt bei der Kirche aber dazu, dass es nicht nur um die nackten Mythen geht, sondern auch um historische Vorgänge dahinter, auch wenn diese nicht mit den Mythen 1:1 deckungsgleich sind. Natürlich sind zu den biblischen Mythen immer wieder neue dazu gekommen, man lese und bedenke nur die unzähligen Heiligenlegenden. Selbst die Viten bedeutender kirchlicher Gestalten des 20. Jahrhundert wie der letzten Päpste, Pater Pio oder Mutter Theresa sind sehr wohl mythenumrankt.
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GermanHeretic
Man soll natürlich Mythen so weiter geben, dass sie verständlich bleiben.

Das war früher kein Problem, als sie noch mündlich tradiert wurden. Da haben sich die Mythen mit den sprachlichen und kulturellen Wandlungen mitgewandelt. Als man sie aufschrieb und festlegte, daß man das Geschriebene nicht ändern dürfe, da wurde aus Mythos ganz schnell unverständliches Gebrabbel.

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Es ist übrigens ein "Mythos" - richtiger: eine falsche Vorstellung -, dass ein moderner Roman frei erfunden sei.

 

Das ist alles sehr richtig, ein sehr interessantes Posting.

 

Es hat sich anscheinend schon deshalb gelohnt, weil es Dich zu einem Einzeiler veranlasst hat, was Dich sicher viel Überwindung gekostet hat.

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Long John Silver
Dahin ist das spontane Erfassen des Mythos.

 

Aber nein.

 

Gruener Christus by Marc Chagall

 

Gruene Tara (Tibetanischer Buddhismus

 

Der gruengesichtige gruenhaeutige Osiris (Altaegypten)

 

Erlaeuterungen zu den Bildern

 

hier

bearbeitet von Long John Silver
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Man soll natürlich Mythen so weiter geben, dass sie verständlich bleiben.

Das war früher kein Problem, als sie noch mündlich tradiert wurden. Da haben sich die Mythen mit den sprachlichen und kulturellen Wandlungen mitgewandelt. Als man sie aufschrieb und festlegte, daß man das Geschriebene nicht ändern dürfe, da wurde aus Mythos ganz schnell unverständliches Gebrabbel.

Das kann in Einzelfällen so gewesen sein, wir müssen allerdings auch sehen, dass die Werke Homers und das Nibelungenlied auch über viele Jahrhunderte schriftlich überliefert wurden, ohne dass sie von ihrer Faszination verloren.
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GermanHeretic
Man soll natürlich Mythen so weiter geben, dass sie verständlich bleiben.

Das war früher kein Problem, als sie noch mündlich tradiert wurden. Da haben sich die Mythen mit den sprachlichen und kulturellen Wandlungen mitgewandelt. Als man sie aufschrieb und festlegte, daß man das Geschriebene nicht ändern dürfe, da wurde aus Mythos ganz schnell unverständliches Gebrabbel.

Das kann in Einzelfällen so gewesen sein, wir müssen allerdings auch sehen, dass die Werke Homers und das Nibelungenlied auch über viele Jahrhunderte schriftlich überliefert wurden, ohne dass sie von ihrer Faszination verloren.

Natürlich, aber die wurden ja auch in moderner Sprache nacherzählt, und kein Gustav Schwab mußte brennen, weil er nicht in Hexametern geschrieben hat.

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