Dies ist ein beliebter Beitrag. Marcellinus Geschrieben 21. Januar 2023 Dies ist ein beliebter Beitrag. Melden Share Geschrieben 21. Januar 2023 Auf vielen gesellschaftlichen Gebieten haben es Traditionen heute schwer. Egal ob historische Gestalten wie Bismarck, die traditionelle Form unserer Sprache, oder religiöse Traditionen der Kirchen, ja selbst die biologischen Tatsachen unserer Spezies, alles muß sich dem kritischen Urteil derjenigen unterwerfen, die alles besser wissen. Ob man nun solch eine Position „woke“ nennt oder nicht, gerade in einer Zeit, in der der zivilisatorischen Fortschritt zunehmend in Zweifel steht, überholt sich der gedankliche Fortschritt zunehmend ständig selbst. Während die Progressiven sich nicht einmal mehr von beobachtbaren Tatsachen aufhalten lassen, geraten die, die bisherige Gewißheiten zu verteidigen suchen, immer mehr in Bedrängnis. Das Problem der Traditionalisten ist, daß sich ihre Position nicht argumentativ vertreten läßt. Der Grund ist einfach: Traditionen entstehen nicht aufgrund von Argumenten, sondern „naturwüchsig“, wobei der Begriff Tradition auch noch unterstellt, daß es „schon immer so gewesen sei“, was natürlich nicht stimmt. Die Progressiven haben es da leichter. Sie fordern im Namen ihrer Ideologie die Gültigkeit von Normen, und damit die Abschaffung aller Zustände, die dem entgegenstehen. Damit sind sie schon per definitionem auf der Seite des Fortschritts, und jeder, der dagegen argumentiert, von gestern, zumindest solange, wie man die Ideologie akzeptiert, die hinter dem Fortschrittsbegriff steht. Spätestens, wenn die Tradition erst an einigen Punkten aufgeweicht wurde, kommt für die Traditionalisten das Problem hinzu, daß sie nicht für einen Status quo argumentieren, sondern für einen Status quo ante, womit sie auf eine Art ebenfalls für Veränderung plädieren wie die Progressiven, nur in eine andere Richtung. Hier tritt ein Phänomen auf, daß man die Ideologisierung der Tradition nennen könnte, denn es setzen sich unter den Traditionalisten die durch, die für den Schritt zurück nun ebenfalls nach normativen Gründen suchen, und dabei bei der Ideologie der „reine Lehre“ landen, zu der man zurück müsse. Was ursprünglich ein Kampf zwischen Tradition und Fortschritt war, zwischen Bewahrung und Veränderung, wird nun einer zwischen zwei unvereinbaren Glaubensvorstellungen, zwischen Revolution und Reaktion. Beide finden den gegenwärtigen Zustand unerträglich, nur aus entgegengesetzten Gründen. Beide folgen einer Ideologie, die ihnen sagt, wohin die Reise gehen soll. Die einen finden ihr Ideal in der Zukunft, die anderen in der Vergangenheit. Eine Art von Gemeinsamkeit gibt es aber doch: die Zukunft der Progressiven wird nie Gegenwart werden, so wie die Vergangenheit der Reaktionäre nie Gegenwart war. Beide folgen einem Traumbild, dessen Verwirklichung an dem scheitert, was alle Weltanschauungen miteinander gemeinsam haben: Ihren Mangel an Komplexität, der einfach der Wirklichkeit nicht gewachsen ist. 1 3 Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
o_aus_h Geschrieben 22. Januar 2023 Melden Share Geschrieben 22. Januar 2023 Kennst Du die Redewendung, „das ist ein schwarzer Schwan!“? Sie geht zurück auf den Satiriker Juvenal, der eine treue Ehefrau als so selten wie einen solchen Vogel bezeichnete – denn damals und noch bis ins ca. 17. Jahrhundert kannte man nur weiße Schwäne in Europa. Dann entdeckte man allerdings, in Australien und Neuseeland gibt es sehr wohl eine solche Gattung, die heute im Deutschen Trauerschwäne genannt werden. Die Redewendung hat seit dem ihr ePoularität verloren, weil der Sinn abhanden kam. Warum erzähle ich diese Geschichte hier? Du schreibst, vor 22 Stunden schrieb Marcellinus: Die Progressiven … fordern im Namen ihrer Ideologie die Gültigkeit von Normen, und damit die Abschaffung aller Zustände, die dem entgegenstehen. Es ist nicht immer bloß eine Ideologie, die etwas fordert – es gibt durchaus auch an der einen oder anderen Stelle einen Erkenntnisgewinn, der es erfordert, Denkmuster zu durchbrechen, und seien sie auch jahrhundertelang unbestritten gewesen. Und umgekehrt ist natürlich auch so, dass nicht jede Neuerung funktioniert, selbst wenn sie vielleicht theoretisch ganz sinnvoll klang. Darum darf ich an dieser Stelle vielleicht doch Paulus zitieren: Prüfe alles, und behalte das Gute! 2 Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
ultramontanist Geschrieben 22. Januar 2023 Melden Share Geschrieben 22. Januar 2023 Als ich vor 50 Jahren Teenager war war mir ganz klar, dass die Tradition Mist ist. Folglich folgte ich meinen großen Brüdern, den 68ern, die diesen Mist beseitigen wollten. Heute ist mir klar, dass Ho Ho Hotschimin ein viel größerer Feind der Freiheit war als A A Adenauer 1 Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Dies ist ein beliebter Beitrag. Juana Geschrieben 22. Januar 2023 Dies ist ein beliebter Beitrag. Melden Share Geschrieben 22. Januar 2023 Als großes Problem sehe ich die Komplexität vieler Gegebenheiten. Mein Beispiel dazu: im Nachkriegsdeutschland, in dem ich aufgewachsen bin, hatte das Wort Patriotismus immer einen negativen Beigeschmack. Als ich dann viel später in eine polnische katholische Pfarrgemeinde kam, erlebte ich einen positiven Aspekt des Patriotismus, nämlich ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit, das in anderen Gemeinschaften selten zu finden ist. Klar ist mir, dass dieser Zusammenhalt auch aus dem gemeinsamen Glauben gespeist wurde, aber die unbefangene positive Einstellung zum Herkunftsstaat hat mich beeindruckt. Für mich sind die Leute mit den heutigen Problemen der Welt in der Regel einfach überfordert. Da kommen dann solche Sachen heraus wie "die Menschenrechte sind universal und überall gültig und immer durchzusetzen, egal welche Kollateralschäden entstehen" oder "Klimaschutz first - auch um den Preis des Ruins einer Gesellschaft". Irgendwelche Ideologien sind auf Teufel komm raus durchzusetzen, egal welche negativen Konsequenzen sich daraus ergeben. Sogar ganz verquaste unausgegorene Ideen finden Platz, wie z. B. dass es nicht so wichtig ist, einen Konsens zumindest über das Gewaltmonopol des Staates zu haben, schon allein zum eigenen Schutz. Vielleicht haben die Menschen auch kein Gespür mehr dafür, welche Grundlagen unbedingt dafür notwendig sind, um frei und sicher leben zu können. 4 Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Die Angelika Geschrieben 27. Januar 2023 Melden Share Geschrieben 27. Januar 2023 Am 21.1.2023 um 18:09 schrieb Marcellinus: Beide folgen einer Ideologie, die ihnen sagt, wohin die Reise gehen soll. Die einen finden ihr Ideal in der Zukunft, die anderen in der Vergangenheit. Eine Art von Gemeinsamkeit gibt es aber doch: die Zukunft der Progressiven wird nie Gegenwart werden, so wie die Vergangenheit der Reaktionäre nie Gegenwart war. Beide folgen einem Traumbild, dessen Verwirklichung an dem scheitert, was alle Weltanschauungen miteinander gemeinsam haben: Ihren Mangel an Komplexität, der einfach der Wirklichkeit nicht gewachsen ist. Ich habe nun den Text schon mehrfach durchgelesen und stoße mich immer wieder an diesem Fazit. Ich halte es für falsch. Ich würde schon noch unterscheiden wollen zwischen Visionen, die Triebfeder für echte Weiterentwicklung und Veränderung sind, und Traumbildern, die sich wenig um die Realität scheren. Auch halte ich die Aussage für falsch, dass allen Weltanschauungen der Mangel an Komplexität gemeinsam ist. Aber da erinnere ich mich dumpf daran, dass du das Wort Weltanschauung als Synonym für das verwendest, was ich als Ideologie bezeichne. Und da würde ich dann schon zustimmen, dass Ideologien der Mangel an Komplexität eigen ist. Der ist ihnen aber eigen, weil sie vor lauter Ideologie geblendet sind, die Wirklichkeit nicht mehr sehen und deshalb ihre ursprünglichen Visionen zu fixen Ideen (fixen Traumbildern) werden, deren Verwirklichung tatsächlich an der Realität scheitern muss Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Marcellinus Geschrieben 27. Januar 2023 Autor Melden Share Geschrieben 27. Januar 2023 vor 34 Minuten schrieb Die Angelika: Ich habe nun den Text schon mehrfach durchgelesen und stoße mich immer wieder an diesem Fazit. Ich halte es für falsch. Ich würde schon noch unterscheiden wollen zwischen Visionen, die Triebfeder für echte Weiterentwicklung und Veränderung sind, und Traumbildern, die sich wenig um die Realität scheren. Auch halte ich die Aussage für falsch, dass allen Weltanschauungen der Mangel an Komplexität gemeinsam ist. Aber da erinnere ich mich dumpf daran, dass du das Wort Weltanschauung als Synonym für das verwendest, was ich als Ideologie bezeichne. Und da würde ich dann schon zustimmen, dass Ideologien der Mangel an Komplexität eigen ist. Der ist ihnen aber eigen, weil sie vor lauter Ideologie geblendet sind, die Wirklichkeit nicht mehr sehen und deshalb ihre ursprünglichen Visionen zu fixen Ideen (fixen Traumbildern) werden, deren Verwirklichung tatsächlich an der Realität scheitern muss In deiner Antwort steckt implizit die Vorstellung, wenn wir nur das vermeiden, was du und ich Ideologie nennen, nämlich die Vorrang einer Idee vor der Wirklichkeit, dann könnten wir die Wirklichkeit sehen, wie sie ist. Das halte ich für einen Irrtum. Ja, es gibt die Wirklichkeit, aber wir waren noch nie da, nicht einmal auf Besuch (hach, ich zitiere diesen Satz immer wieder gern!). Selbst in seiner wirklichkeitsgerechtesten Form ist unsere Wahrnehmung immer Vereinfachung. Es geht nicht anders. Wir, und damit unsere Erkenntnisfähigkeit, leidet an drei ganz grundsätzlichen Mängeln, dem Mangel an Zeit, an Informationen und an kognitiven Fähigkeiten. Diese Begrenzungen treffen alles, jedes und jeden. Man kann sogar sagen, daß unsere Fähigkeit, uns in dieser Welt zu orientieren, genau darauf beruht, daß wir vereinfachen können. Sähen wir die Welt, wie sie ist, würden wir davon erschlagen. Wir betrachten immer nur einzelne Ebenen unserer Umgebung, und machen uns aus dem, was wir sehen, Modelle von Zusammenhängen. Das Stichwort dazu ist Emergenz. Vereinfacht ausgedrückt beruht Emergenz darauf, daß wir die Eigenschaften zB eines Rades beobachten und beschreiben können, ohne genau zu wissen, woraus dieses Rad im konkreten Fall genau besteht. Wir können die Bahnen der Planeten unseres Sonnensystem beschreiben, ohne jeden einzelnen Planeten in- und auswendig zu kennen. Das ist schön, ist sogar eine der Voraussetzungen unserer Wissenschaften, hat aber den Nachteil, daß unser Wissen eben immer nur vorläufig ist, und wir nicht nur nichts sicher wissen, sondern nicht einmal, was uns noch an Wissen fehlt, und wo uns noch Überraschungen bevorstehen. Der Unterschied zwischen Ideologie und einem nichtideologischen Weltbild, um auf dein Eingangsstatement zurückzukommen, ist also nicht, daß Ideologien ein Mangel an Komplexität eigen sei, und Nichtideologien nicht. Alle unsere Vorstellungen von dieser Welt sind unterkomplex, müssen es sein. Der entscheidende Unterschied ist, inwieweit wir bereit und in der Lage sind, unsere Weltbilder an neue Erkenntnisse anzupassen. Ideologien sind vor allem von Ideen getrieben. Daher der Name. Ideologen versuchen daher, die Wahrnehmung der Welt an ihre Ideen anzupassen. Nichtideologen, Realisten, Naturalisten, nenn sie, wie du willst, versuchen dagegen, ihre Vorstellungen, Theorien, Modelle realistischer zu machen. Der Komparativ, das Mehr ist hier entscheidend, nicht hin zu einer hypothetisch "vollkommenen", "wahren" Erkenntnis der Wirklichkeit, die es nicht gibt, sondern weg von Vorstellungen, an denen wir uns schon den Kopf gestoßen haben, weil sie falsch sind. Wie überhaupt unsere sichersten Erkenntnisse (neben der Erkenntnis, daß wir sterben müssen), die sind, von denen wir sicher wissen, daß sie falsch sind. 1 Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Soulman Geschrieben 28. Januar 2023 Melden Share Geschrieben 28. Januar 2023 vor 18 Stunden schrieb Marcellinus: Wie überhaupt unsere sichersten Erkenntnisse (neben der Erkenntnis, daß wir sterben müssen), die sind, von denen wir sicher wissen, daß sie falsch sind. Oder der Versuchsaufbau Mist war. Den Rest kann ich unterschreiben. 1 1 Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
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