rorro Geschrieben 21. September 2023 Melden Share Geschrieben 21. September 2023 Nach dem, was ich so mitbekommen habe die letzten Jahre (auch hier im Forum wurde es mal angerissen) scheint es exegetischer Konsens zu sein im deutschsprachigen Raum, daß Jesus und die Urgemeinde in Israel von einer Naherwartung geprägt worden sind, d.h. von dem nahen Weltenende überzeugt waren. Da das bekanntlich nicht eintrat, wird das manchmal auch gegen die Glaubwürdigkeit Jesu sprechen. Neulich habe ich etwas aus dem englischsprachigen Raum der Exegese gehört (katholisch), was für mich sehr plausibel klang: Jesus sprach in den Reden vom Untergang der Welt, die von "diese Generation" erleben werde, nicht vom Untergang unseres Weltalls, sondern vom Untergang eines sehr prominenten baus, der in seinem Aufbau und Ausschmückung das gesamte Weltall repräsentierte: der Zweite Tempel in Jerusalem. Um ihn ging es Jesus - er sah die Zerstörung des Tempels voraus und schmückte das sehr bildhaft aus. Was spricht dafür? Interessanterweise u.a. das, was man sonst für ein Zeichen der Naherwartung hielt: die Gütergemeinschaft der Kirche in Jerusalem. Die wußten, daß wenn der Tempel zerstört werden würde, dies auch bedeuten muß, daß ganz Jerusalem in die Hände von Feinden fällt - also macht es keinerlei Sinn, verletztliche Reichtümer anzuhäufen. Denn dieses Phänoen der Gütergemeinschaft wird in Apg nur von Jerusalem berichtet - alle anderen ganz jungen Gemeinden sollen dieser ersten mit ihren Gütern helfen, betreiben das nicht. Es gibt von Paulus Aufrufe an die Gemeindemitglieder, nicht an eine über den kollektiven Wohlstand frei verfügende Leitung. Es gab keine allgemeine Naherwartung, sondern Jerusalem ewartete die Zerstörug der Stadt und des Tempels. Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Marcellinus Geschrieben 21. September 2023 Melden Share Geschrieben 21. September 2023 (bearbeitet) vor einer Stunde schrieb rorro: Was spricht dafür? Interessanterweise u.a. das, was man sonst für ein Zeichen der Naherwartung hielt: die Gütergemeinschaft der Kirche in Jerusalem. Was spricht dagegen? Daß es die meines Wissens auch woanders gab. Das nahende Weltende war nicht nur in Jerusalem Gegenstand frühchristlicher Glaubensvorstellungen. bearbeitet 21. September 2023 von Marcellinus Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Flo77 Geschrieben 21. September 2023 Melden Share Geschrieben 21. September 2023 Die Generation, die "das" noch erleben würde wird bei den Synoptikern erwähnt: LK 21,32 MK 13,30 und MT 24,34. In allen drei Kontexten geht es in der Tat um die Ankündigung der Zerstörung des Tempels. Was meiner Meinung nach gegen die These spricht, die Naherwartung hätte sich nur auf den Tempel bezogen ist allerdings der Text, der dem Feigenbaumgleichnis vorausgeht und in dem das Kommen des Menschensohnes angekündigt wird. Die Zerstörung des Tempels wird also in den direkten Zusammenhang mit dem jüngsten Gericht gesetzt. Was für mich auch eher für die Naherwartung des Gerichts spricht, sind z.B. die Passagen von den Vögeln am Himmel, den Lilien auf dem Felde und etlichen anderen in denen die Besitz- und Ruhelosigkeit geraten wird immer im Hinblick auf das kommende Gottesreich. Wäre von einer Weiterexistenz im herkömmlichen Sinne auszugehen gewesen, wäre die Idee nicht mehr zu säen eine ziemlich riskante Sache gewesen. Und diese Passagen stehen vor den Jerusalemreisen. Ein Bezug auf den Tempel erscheint da eher nicht gegeben. Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Studiosus Geschrieben 21. September 2023 Melden Share Geschrieben 21. September 2023 (bearbeitet) Naherwartung und Parusieverzögerung sind sehr prominente Konzepte der Exegese und der Kirchengeschichte, die man, einmal aufgesogen, nicht mehr aus den Köpfen der Theologen bekommt. Ich halte sie für eine etwas bemühte Erklärung dafür, dass sich die Kirche aus ihrem primitiven Urzustand weiterentwickelt und ausdifferenziert und auch eine komplexe Theologie entwickelt hat. Implizit ist in diesen Konzepten die Behauptung hineingelegt, Christus hätte eigentlich keine dauerhafte, amtlich-hierarchische Kirche gründen wollen, aber dann kam er nicht wie erwartet zurück und Menschen tun, was Menschen eben tun: Strukturen und Institutionen bilden. Und so kam die Kirche über uns. Ich lehne diese Interpretation ab. Das als Vorbemerkung zum Thema Naherwartung. Was nun die Prophezeiung der Zerstörung Jerusalems und des Zweiten Tempels durch Christus angeht, so steht diese für mich außer Frage. Aber den im Eingangspost dargelegten Zusammenhang sehe ich ehrlich gesagt nicht. Die Prophezeiung bezieht sich konkret auf Jerusalem, und damit auch den Tempel, und stellt, wie ebenfalls als wissenschaftlicher Konsens verbreitet, kein vaticinium ex eventu dar, das der Evangelienschreiber, der den historischen Untergang Jerusalems als Faktum kannte, dem Herrn in den Mund gelegt hat. Das ist wieder so eine Theorie, die man bemühen muss, um nicht zuzugeben, dass die Heilige Schrift Prophezeiungen Christi überliefert, die tatsächlich eingetroffen sind. Denn Christus darf das natürlich nicht prophezeit haben, sonst fällt die ebenfalls exegetische Chimäre des "historischen Jesus" in sich zusammen (und die bequeme Datierung der Evangelien nach 70 n. Chr.). Als Frage an diejenigen, die sich vollkommen dieser Art der Exegese verschrieben haben, in den Raum gestellt: Was kann euer Gott überhaupt? Wunder und Heilungen fallen weg, Prophezeiungen, entweder unmittelbare oder durch seine Propheten gegebene, fallen weg, die Auferstehung, das Kerndogma des christlichen Glaubens, ist auch so ein Grenzfall, Jungfrauengeburt unmöglich usw. bearbeitet 21. September 2023 von Studiosus Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Flo77 Geschrieben 21. September 2023 Melden Share Geschrieben 21. September 2023 Natürlich, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Werner001 Geschrieben 21. September 2023 Melden Share Geschrieben 21. September 2023 vor 21 Minuten schrieb rorro: Um ihn ging es Jesus - er sah die Zerstörung des Tempels voraus und schmückte das sehr bildhaft aus. Das wäre theoretisch denkbar, lässt sich halt nicht überprüfen. vor 23 Minuten schrieb rorro: Die wußten, daß wenn der Tempel zerstört werden würde, dies auch bedeuten muß, daß ganz Jerusalem in die Hände von Feinden fällt - also macht es keinerlei Sinn, verletztliche Reichtümer anzuhäufen. Das halte ich jetzt aber für sehr weit hergeholt. Eine plausible Reaktion wäre „wir verlassen Jerusalem und gehen nach Galiläa“. Aber doch nicht „wir bilden eine Gütergemeinschaft“ Aber am gravierendsten: es gibt ja Stellen, die von einer baldigen Wiederkunft Christi ausgehen. 1 Thessalonicher 4, 15; auch im 1. Korintherbrief (15, 50ff) geht Paulus davon aus, dass zumindest ein Teil der Adressaten noch zu Lebzeiten die Parusie erleben wird. im 2. Petrusbrief 3, 4-9 wird sogar die vergebliche Erwartung der baldigen Wiederkunft thematisiert. Werner 2 Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
rorro Geschrieben 24. September 2023 Autor Melden Share Geschrieben 24. September 2023 Am 22.9.2023 um 00:02 schrieb Werner001: Das halte ich jetzt aber für sehr weit hergeholt. Eine plausible Reaktion wäre „wir verlassen Jerusalem und gehen nach Galiläa“. Aber doch nicht „wir bilden eine Gütergemeinschaft“ Nun, die Frage stellt sich durchaus, warum es diese Gütergemeinschaft in Jerusalem gab und es null Hinweis gibt, daß es andernorts genauso war. Außerdem: wovon sollen die Menschen in Galiläa denn leben? Am 22.9.2023 um 00:02 schrieb Werner001: Aber am gravierendsten: es gibt ja Stellen, die von einer baldigen Wiederkunft Christi ausgehen. 1 Thessalonicher 4, 15; auch im 1. Korintherbrief (15, 50ff) geht Paulus davon aus, dass zumindest ein Teil der Adressaten noch zu Lebzeiten die Parusie erleben wird. im 2. Petrusbrief 3, 4-9 wird sogar die vergebliche Erwartung der baldigen Wiederkunft thematisiert. 2 Petr. 3,4-9 berichtet, daß "Spötter" davon ausgehen, nicht unbedingt, daß das Mehrheitsmeinung gewesen sei. Und die Paulusbriefe muß man nicht so lesen. Das "Wir" der Briefe bezieht sich auf die Christen generell, um zu zeigen, daß Verstorbenen wie noch Lebenden dasselbe Schicksal zuteil werden wird nach dem Kommen Jesu und es keinerlei Vorteil gibt noch zu leben oder bereits gestorben zu sein. Und wann das sein wird, sagt 2 Petr. ja auch: tausend Jahre sind für Gott wie ein Tag. Christen leben in dem Glauben, daß der verherrlichte Jesus wiederkommen wird, und wir bereiten uns darauf vor, doch wann das sein wird, ist vollkommen ungewiß. 1 Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Weihrauch Geschrieben 24. September 2023 Melden Share Geschrieben 24. September 2023 Am 21.9.2023 um 23:57 schrieb Studiosus: Die Prophezeiung bezieht sich konkret auf Jerusalem, und damit auch den Tempel, und stellt, wie ebenfalls als wissenschaftlicher Konsens verbreitet, kein vaticinium ex eventu dar, das der Evangelienschreiber, der den historischen Untergang Jerusalems als Faktum kannte, dem Herrn in den Mund gelegt hat. Soweit ich das mitbekommen habe, ist es wissenschaftlicher Konsens, dass es sich dabei um ein vaticinium ex eventu handelt. Woher hast du, dass sich das mittlerweile geändert haben sollte? Zitat Das ist wieder so eine Theorie, die man bemühen muss, um nicht zuzugeben, dass die Heilige Schrift Prophezeiungen Christi überliefert, die tatsächlich eingetroffen sind. Niemand streitet ab, dass die Heilige Schrift Prophezeiungen Christi enthält, die tatsächlich eingetroffen sind. Bei jeder Art der Exegese kommt heraus, dass diese Prophezeiung des Herrn in der Bibel tatsächlich eingetroffen ist. Dass der Tempel weg ist, ist unstrittig. Und jetzt? Glaubst du im Ernst, dass nur weil du das Wort "überliefert" verwendest, allen anderen nichts anderes mehr übrig bleibt als die Wahrheit anzuerkennen oder sie zu leugnen? BTW: Welche Theorie muss man bemühen, um nicht zugeben zu müssen, dass der Herr diese überlieferte Prophezeiung nicht gemacht hat, und sie ihm von einem Evangelienschreiber in den Mund gelegt wurde? Am 21.9.2023 um 23:57 schrieb Studiosus: Als Frage an diejenigen, die sich vollkommen dieser Art der Exegese verschrieben haben, in den Raum gestellt: Alle anwesenden Ideologen bitte vortreten (am besten mit ihren Göttern). Zitat Was kann euer Gott überhaupt? Euer Gott? Seit wann ist es nicht mehr unser Gott? Bei welcher Art der Exegese kommt denn heraus, was Jahwe, was Marduk, Melqart, Hadad, Kemosch kann? Für jemanden der Volltheologe ist, stellst du ziemlich merkwürdige Fragen. Zitat Wunder und Heilungen fallen weg, Prophezeiungen, entweder unmittelbare oder durch seine Propheten gegebene, fallen weg, die Auferstehung, das Kerndogma des christlichen Glaubens, ist auch so ein Grenzfall, Jungfrauengeburt unmöglich usw. Das nennt sich Whataboutism. Was hat all das mit der Naherwartung der frühen Kirche zu tun? Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Studiosus Geschrieben 24. September 2023 Melden Share Geschrieben 24. September 2023 (bearbeitet) vor 35 Minuten schrieb Weihrauch: Bei welcher Art der Exegese kommt denn heraus, was Jahwe, was Marduk, Melqart, Hadad, Kemosch kann? Für jemanden der Volltheologe ist, stellst du ziemlich merkwürdige Fragen. Bei jeder Form von Exegese, die die Machttaten Gottes und Christi nicht in literarische Topoi, "Glaubenserfahrungen" und ahistorische Erzählungen auflöst. Da gibt es eine ganze Bandbreite an Schriftauslegungen, die das schaffen. Die Väterexegese hat die Schrift ebenfalls ausgelegt, Exegese betrieben, kam aber ganz ohne die genannten Relativierungen aus. Sie haben den vierfachen Sinn der Schrift, nicht eine Sinnebene isoliert, zum Klingen gebracht. Die historisch-kritische Methode in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen scheidet da leider aus. Wenn Regal(kilo)meter an exegetischer Fachliteratur mich nicht auf Grundlage der Schrift näher an die Antwort heranführen, wer Gott ist und was er wirklich getan hat, dann sind sie das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind. bearbeitet 24. September 2023 von Studiosus Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Weihrauch Geschrieben 24. September 2023 Melden Share Geschrieben 24. September 2023 Du hast es wirklich drauf, einem Liebeskummer zu bereiten. Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
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