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Wahrheit, Negation und Beweisbarkeit


iskander

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Am 18.12.2023 um 08:14 schrieb Soulman:

So geht es mir. Das ist das Paradoxon schlechthin und eine große Kränkung. An den unglaublich vielen Enden der verschiedenen Naturwissenschaften gibt es immer nur eine Handvoll Spezialisten, die sich für eine Erweiterung des Wissens eignen, weil nur die sich noch fruchtbar über ihr Steckenpferd unterhalten können. Die allgemeine Diskussion über einen „innersten Kern“ ist müßig und genügt sich selber. Ich habe mich damit abgefunden und auch befreit von dem Wunsch die losen Enden wieder zu einem Gebetsteppich zusammenzuknüpfen.

 

 

Wir können natürlich hoffen, dass es Fortschritte gibt. Manchmal gibt es auch eine gute neue Theorie, die Kompliziertes und scheinbar Getrenntes zusammenführt. Derzeit sieht es aber leider, jedenfalls was die Physik angeht, nicht danach aus.

Doch selbst wenn es eine hervorragende Theorie geben sollte, die alles, was wir beobachten, zufriedenstellend erklärt und zudem (vergleichsweise) elegant und einfach ist und selbst dem Laien halbwegs verständlich ist, wüssten wir doch nicht, ob damit alles gesagt wäre. Denn die Natur könnte doch anders sein als die Theorie es beschreibt und beispielsweise Eigenschaften beinhalten, die wir bisher einfach nicht beobachten konnten (womöglich weil sie sehr selten zum erkennbar Vorschein kommen oder weil wir bestimmte "Bereiche" kaum beobachten) können. 

 

Wir können uns der Natur eben immer nur von außen nähern.

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Wenn ich nochmals etwas zum Thema sagen darf (ohne damit irgendjemanden "verpflichten"zu wollen, dasselbe zu tun), dann würde ich noch expliziter auf einen Punkt hinweisen wollen, der mir am Herzen liegt: nämlich dass wir nach meiner Überzeugung nur diejenigen Erkenntnisfähigkeiten haben, die wir im Prinzip auch aus dem Alltag kennen. Insofern können auch wissenschaftliche oder philosophische Erkenntnisse immer nur mit den aus dem Alltag bereits bekannten Formen des Erkennens gerechtfertigt werden (sofern bzw. soweit sie denn überhaupt gerechtfertigt werden können).

Natürlich geht man etwa in der Philosophie über das Alltagswissen hinaus, aber die Quellen sind dieselben.

 

Zweitens - und das hängt damit zusammen - muss Philosophie sich dann organisch aus dem alltäglichen Verständnis und Wissen entwickeln , und zwar ohne Gewaltsamkeit. (Oder in manchen Fällen aus Alltagswissen und den Ergebnissen der Wissenschaft, je nachdem.)

 

Ich versuche das, am konkreten Beispiel näher auszuführen. Ich hatte geschrieben:

 

Am 19.12.2023 um 19:24 schrieb iskander:

Nehmen wir einmal einen Satz wie "Selbst wenn meine feste Überzeugung, dass der Rhein in die Nordsee fließt, falsch sein sollte, bliebe doch immerhin wahr, dass ich eine Überzeugung dazu habe, wo der Rhein mündet". [...] Ich rede ja über Dinge wie "Erleben", "physische Dinge", "Überzeugungen", "Wünsche" usw. - also nicht über irgendwas "Abgehobenes". Und ich meine damit auch das, was man allgemein darunter versteht.

 

Natürlich mag es beispielsweise sein, dass Menschen bestimmte Überzeugungen auf einer bewussten Ebene haben und andere Überzeugungen auf einer "unterbewussten"; aber wenn jemand sich sicher ist, eine Überzeugung zu haben, dann hat er sie doch gewiss zumindest bewusst und in einem bestimmten Sinne. Es wäre absurd, wenn ich beispielsweise behaupten wollte, dass @Marcellinus in Wahrheit alle meine Überzeugungen zu 100% teilen würde, und dass er in keiner wie auch immer gearteten relevanten Weise diejenigen Überzeugungen hätte, die er hier äußert, sondern nur fälschlicherweise glauben würde, diese zu haben.

 

Insofern gehe ich davon aus, dass ein Satz wie eben der schon zitierte Satz (zurecht) allgemeine Zustimmung finden dürfte: "Selbst wenn meine feste Überzeugung, dass der Rhein in die Nordsee fließt, falsch sein sollte, bliebe doch immerhin wahr, dass ich eine Überzeugung dazu habe, wo der Rhein mündet." Man würde zugleich sicher auch zugeben, dass wir wissen können, dass es sich so verhält, und dass wir unsere Zustimmung also zu Recht geben.

 

Ist das schon Philosophie oder noch "Alltag"? Es ist vielleicht an der Grenze. Gehen wir also den nächsten Schritt:

 

"Wenn es wahr ist, dass jemand selbst dann eine Überzeugung hat, wenn diese Überzeugung falsch ist, und wenn wir erkennen können, dass das so ist, dann gibt es wahre und erkennbare Aussagen (genau genommen: zumindest eine)."

 

Das wäre vielleicht schon Philosophie - denn wir implizieren im Alltag zwar ständig, dass es Wahrheit (im Sinne des "Zutreffens") und Erkenntnis gibt. Das wird in der normalen Interaktion des Alltags jedoch gewöhnlich nicht explizit thematisiert. Auch das Argument "X ist ein konkreter Fall von Wahrheit und Erkenntnis, also gibt es Wahrheit und Erkenntnis" gehört wohl schon in die Philosophie - obwohl die Logik dahinter erneut "simple Alltagslogik" ist, wie wir sie ständig anwenden.

 

In den nächsten Schritten - und da würde es dann wohl wirklich allmählich in die Philosophie gehen - könnten wir fragen, was denn nun eigentlich genau die "Sache" sei, die man üblicherweise als "wahr" bezeichnet. Es würde sicherlich schnell offenkundig, dass Überzeugungen und behauptende Aussagen (und was mit ihnen eng verwandt ist) diejenigen "Dinge" sind, denen potentiell die Eigenschaft "wahr sein" zukommt. Nicht der Weihnachtsmann ist (im primären Wortsinne) "wahr" oder "falsch", sondern die Behauptung, dass es ihn gibt, ist "wahr" oder "falsch".

 

Dann könnte man fragen, was wir eigentlich meinen, wenn wir sagen, dass es beispielsweise "wahr" sei, dass der Ofen an ist. Hier würde dann wohl jeder zugeben, dass wir dann die entsprechende Überzeugung als "wahr" bezeichnen, wenn der Ofen tatsächlich an ist. "Wahr" (im Sinne des üblichen Begriffs) ist eine Überzeugung also dann, wenn sie irgendwie mit der Wirklichkeit "übereinstimmt". Aber was bedeutet hier "Übereinstimmung" genauer?

 

Hier könnte der nächste Schritt dann sein, diese und ähnliche Fragen näher zu klären und den "Wahrheitsbegriff" so zu fassen, dass er immer noch dasselbe leistet wie der alltägliche, aber präziser ist. (Damit sage ich nicht, dass es illegitim sei, mit dem Wort "Wahrheit" auch etwas wesentlich anderes zu bezeichnen als das eben Ausgeführte, so wie beispielsweise Marcellinus das tut; aber dann hat man es eben letztlich auch mit einem anderen Begriff und daher mit anderen Fragestellungen zu tun.)

 

Oder ich hatte ja zuvor gesagt, dass wir mit unseren Überzeugungen uns irgendwie auf die Wirklichkeit "beziehen". Mit meiner Überzeugung, dazu, wo der Rhein mündet, beziehe ich mich - so banal das klingen mag - eben darauf, wo der Rhein mündet. Ich "ziele" hier mit meinem Denken - also mit etwas, was zu meinem Bewusstsein gehört - auf etwas "ab", was außerhalb des Bewusstseins liegt.

Auch das dürfte niemand abstreiten, und das würde man vermutlich auch noch nicht als "Philosophie" werten. Zu diesem "Sich-auf-etwas-Beziehen", welches in der Philosophie als "Intentionalität" bezeichnet wird, lassen sich aber natürlich weitergehende Fragen stellen: Was für eine Art von Beziehung ist das eigentlich? Und bezieht sich in diesem Sinne eigentlich jedes uns bekannte bewusste Phänomen (Denken, Fühlen usw.) immer auf irgendetwas?

 

Man muss sich solche Fragen natürlich nicht stellen; aber wenn man zugibt, dass wir uns mit unserem Denken (und Sprechen) tatsächlich in einer spezifischen Weise auf die Welt beziehen - und wer wollte das bestreiten -, dann erscheint es doch durchaus als sinnvoll und naheliegend, etwas genauer hinzusehen. Und auch hier geht man von dem aus, was uns allen verständlich ist, und betrachtet es näher. (Und auch der Fachbegriff "Intentonalität" tut letztlich nichts anderes, als ein uns allen eigentlich bereits bekanntes Phänomen mit einem Namen zu versehen.)

 

Worauf ich hinaus möchte ist folgendes: Es gibt aus meiner Sicht keine Bruch zwischen "normalem" und "philosophischen" Denken. Das philosophische Denken geht, wenn es legitim ist, in gewisser Weise aus unserem alltäglichen Denken und Wissen organisch hervor. Man kann vom "normalen" Denken zur Philosophie gelangen, ohne gewaltsame Sprünge machen oder in wilde Fantasien abgleiten zu müssen. Es geht dabei darum, das "eigentlich ohnehin Mitgewusste" genauer zu betrachten und zu entfalten, um auf dieser Basis dann sachgemäß und folgerichtig zu weiteren Erkenntnissen zu gelangen.

 

Natürlich: Je mehr man vom "Grundlegenden" weggeht und je komplizierter das Gedankengebäude wird, desto eher besteht auch die Gefahr eines Irrtums. Deswegen - und zum anderen auch schon deshalb, weil wir in manchen Fällen als Ausgangsbasis eben nichts haben, was wir im engen Sinne sicher wissen können, sondern nur das, was plausibel ist -, wird man in vielen Fällen keine "sichere Erkenntnis" im strengen Sinne erreichen können. Bei einem sorgfältigen Vorgehen darf man aber auch in solchen Fällen hoffen, dass wir zumindest etwas erhalten, was gut begründet ist.

 

Gleichzeitig - und das scheint mir auch wichtig zu sein - gibt eigentlich auch unser alltägliches Wissen schon viele philosophische Rätsel auf. Denn wenn wir beispielsweise die visuelle Wahrnehmung nehmen, so ist das uns "sinnlich Gegebene" doch eigentlich ein (dreidimensionales) Wirrwarr aus Farben.

Dass diese "Farberscheinungen" auf "Gegenstände" hinweisen, ist keine sinnliche Erkenntnis. Es ist erst unser "Geist" (im weitesten Sinne), mit dem wir etwas aus dem Meer der Farben und Formen herausgreifen, um es als einen bestimmten "Gegenstand" zu klassifizieren, welchem wir dann zugleich auch eine "Existenz" außerhalb unseres Bewusstseins zuschreiben; und es ist unser "Geist" (im weitesten Sinne), der das Material der Sinneserfahrung "ordnet", unter bestimmte Begriffe bringt, in bestimmte Kategorien einteilt und in bestimmte Verhältnisse setzt. (Ich meine das nicht so, dass der Mensch sich eine Pseudo-Realität konstruieren würde, sondern so, dass er mit seinem Denken und Urteilen der Welt um ihn herum grundsätzlich einigermaßen gerecht wird.)

Wir sehen streng genommen nicht, dass das Feuer den Kessel erwärmt, sondern "eigentlich" haben wir bestimmte visuelle Eindrücke, und den Rest "denken" wir.

Und wir gebrauchen ständig induktive Schlüsse: Aus der Erfahrung leiten wir die Zukunft ab. Und unzählige abduktive Schlüsse: Wir versuchen, für die Beobachtungen, die wir machen, eine vernünftige Erklärung zu finden. Ohne das kämen wir nicht weit.

 

Natürlich kann man sagen, dass ich das vereinfache und in Wahrheit vieles, was wir zu erkennen glauben, unbewusst und "intuitiv" oder sogar instinktiv oder auf eine ähnlich "vernunftferne" Weise abläuft. Vieles, was wir zu wissen glauben, ist vielleicht nicht das Ergebnis der Bemühungen unseres "Verstandes", sondern der Tätigkeiten eines "ratiomorphen Apparates".

 

Wenn wir aber annehmen wollen, dass die Art, wie wir wenigstens unsere Alltagswelt erfahren und begreifen, einigermaßen korrekt ist (so dass wir also nicht allesamt in einer fantastischen und konstruierten Welt leben), dann muss sich unser Vorgehen zumindest im Nachhinein und zumindest grundsätzlich rational rechtfertigen lassen.

Wenn beispielsweise bestimmte Überzeugungen, die wir haben und die uns wichtig sind, nur dann als "rational begründet" gelten dürfen, falls induktives Schließen vernünftig gerechtfertigt ist, dann kommt es eben entscheidend darauf an, ob induktive Schlüsse tatsächlich gültig sind. Können wir diese Schlüsse - und alles andere, worauf wir aufbauen - gut begründen, dann sind auch unsere Überzeugungen, die "am Ende" stehen, gerechtfertigt. Ob wir hingegen ursprünglich, als wir zu den entsprechenden Überzeugungen gelangt waren, überhaupt (bewusst, halbbewusst oder unbewusst) induktive Schlüsse gezogen hatten oder im Extremfall auf eine völlig "alogische" Weise zu ihnen kamen, ist dagegen zweitrangig.

 

Insofern wirft auch unser ganz gewöhnliches "Alltagswissen" schon zahlreiche und bedeutende erkenntnistheoretische Fragen auf.

 

Selbstredend kann man darauf verzichten, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen und sich damit begnügen, dass ja offenbar alles irgendwie "funktioniert". Gleichzeitig bin aber wenigstens ich der Meinung, dass auch nichts verkehrt daran ist, sich solche Fragen zu stellen.

bearbeitet von iskander
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@iskander

Zu deinem Artikel könnte man so vieles sagen, und in meinem Kopf entsteht auch schon ein ungefähres Bild, aber wie immer leiden unsere Bemühungen, und so auch meine, an den 3 grundsätzlichen Mängeln: dem Mangel an Zeit, an Informationen und kognitiven Fähigkeiten. ;)

 

Andererseits möchte ich deinen Text auch nicht ungewürdigt lassen, denn du hast ziemlich eindrücklich versucht, uns deine Gedankengänge verständlich zu machen. Daher hier ein kleiner Hinweis auf einen Teil deines Textes:

 

vor einer Stunde schrieb iskander:

Wenn wir aber annehmen wollen, dass die Art, wie wir wenigstens unsere Alltagswelt erfahren und begreifen, einigermaßen korrekt ist (so dass wir also nicht allesamt in einer fantastischen und konstruierten Welt leben), dann muss sich unser Vorgehen zumindest im Nachhinein und auf einer abstrakten Ebene rational rechtfertigen lassen.

 

Ist es denn wirklich so, daß wir unsere Alltagswelt korrekt erfahren und begreifen? Ich verwende gern ein Beispiel aus der Medizingeschichte: 

 

Menschen wohnten zB. an einem Sumpf, es stank und die Menschen wurden krank. Die Menschen kamen durch die Krankheit mit der Wirklichkeit in Kontakt. Sie wußten, daß das Leben am Sumpf nicht gesund sein konnte, wußten aber nicht warum. Eine „negative“ Erkenntnis also. Die positive Erklärung dafür: man ging davon aus, daß es der Gestank sein mußte, der krank macht. Die Miasmen-Theorie war geboren, eine falsche Theorie, wie wir heute wissen.

 

Aber sie funktionierte! Man legte den Sumpf trocken, um den Gestank loszuwerden, und die Krankheiten wurden weniger. Wir wissen natürlich, daß es am Aussterben der Stechmücken lag, aber die Theorie hatte sich bewährt.

 

Erst im 19. Jh. lernten die Menschen auf die harte Art, daß man den Gestank beseitigen kann, indem man die Abwässer aus der Stadt in die Flüsse leitete, und die Krankheit, in diesem Fall die Cholera, wütete trotzdem, weil die Menschen aus eben diesen Flüssen ihr Trinkwasser nahmen.

 

Auch da wieder stieß man sich an der Wirklichkeit den Kopf, und den ersten Menschen dämmerte, daß es nicht der Gestank sein konnte, der krank machte, sondern etwas, das im Wasser war, man aber nicht sehen konnte. So entstanden im 19. Jh. die ersten großen Kanalisationen nach der Römerzeit. Aber bis man mit Entdeckung von Bakterien eine wirkliche, positive Erklärung bekam, dauerte es noch.

 

Die Krankheit im Umkreis dieses Sumpfes war ein wesentlicher Teil der Alltagswelt dieser Menschen. Sie machten damit ihre Erfahrungen, in diesem Fall negative. Aber haben sie begriffen, was sie da erfuhren? Natürlich nicht! Und das, obwohl diese Erfahrungen nicht Teil einer Fantasiewelt waren. Die Erklärungen dafür waren es aber schon. Wenn aber das Bild, was sich Menschen von dieser Welt machen, falsch, illusorisch ist, dann kann auch ihr Vorgehen nicht rational gewesen sein, oder? 

 

Der für mich entscheidende Punkt: Wir sehe diese Welt nicht so, wie sie ist, sondern wie wir gelernt haben, sie zu sehen. Das ist nicht vollkommen fantastisch oder beliebig konstruiert, sondern das Ergebnis unseres Überlebensprozesses. Das gilt für die Wahrnehmung unserer Sinne (also unser biologisches Erbe) ebenso wie für die gedanklichen Werkzeuge, die Menschen im Laufe ihrer Geschichte entwickelt (und auch immer wieder verworfen) haben. 

 

Der Begriff der Wahrheit, der dir in der Beurteilung einzelner Sätze so wichtig ist, zeigt sich aus meiner Sicht über den Lauf der Geschichte als ein untauglicher. Alles, was wir in einem gegebenen Augenblick für richtig halten, zeigt sich aus dieser Sicht als eine Momentaufnahme in einer Abfolge von Irrtümern, in der unsere Vorstellungen, wenn wir Glück haben, zunehmend realistisch werden, oder wenn nicht, dann weniger (auch das ist schon häufig vorgekommen). Der Komparativ, der Vergleich, das Mehr oder Weniger an Realitätsgerechtigkeit erscheint mir ein viel tauglicherer Zugang. 

 

Aber er impliziert natürlich einen ganz anderen Gedankengang, ein ganz anderes Set von gedanklichen Werkzeugen. Es beginnt damit, daß das Subjekt der Erkenntnis nicht mehr "der einzelne Mensch" ist, sondern daß die gedanklichen Werkzeuge, deren wir uns in unserem Alltag bedienen, über Generationen von Menschen entwickelt und weitergegeben wurden. Die gedanklichen Werkzeuge können aus meiner Sicht dabei nur verstanden werden, wenn man sie als Ergebnis eines sozialen Prozesses begreift, der die Auseinandersetzung einer oder sogar mehrerer Gesellschaften von Menschen mit ihrer jeweiligen Lebensumgebung beobachtet. 

 

Es ist keine Geringschätzung dir gegenüber, wenn für mich einzelne Sätze und ihr vermeintlicher Wahrheitsgehalt keine Bedeutung haben, sondern es um die Frage geht, wie unser Wissen entstanden ist. Soweit wir heute wissenschaftliches Wissen besitzen, ist es ebenso vorläufig, wie es das vorwissenschaftliche war, aus dem es entstanden ist. Damit ist es nicht "wahr", sondern höchstens realistischer als unser Wissen vorher. 

 

Um das Verständnis dieses Wissensprozesses innerhalb des Prozesses unserer Gesellschaftsentwicklung geht es mir. Die Analyse einzelner Sätze hilft mir dabei ebensowenig weiter wie sie unsere Vorfahren am Rande des Sumpfes geholfen hätten. 

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@Marcellinus

 

Dann wenden wir uns wieder etwas mehr der realen und "fassbaren" Welt zu - ein Thema, das in der Tat schon genug hergibt. ;)


In einem gewissen Sinne kann ich einer "vorsichtigen" Haltung durchaus zustimmen. Ich bezweifle nicht, dass unser Zugang zur Wirklichkeit oft begrenzt und sicher oft genug falsch ist.

Dennoch meine  ich, dass wir im Hinblick auf die uns umgebende "greifbare Welt" doch zumindest einige Erkenntnisse haben, die mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr sind - vor allem, wenn es um "grundlegende" Dinge geht, wo wir sozusagen in der uns zugänglichen Sphäre verbleiben und uns unserer Grenzen bewusst sind.

Wenn ich beispielsweise sage "Vor mir steht ein Stuhl", dann gehe ich davon aus, dass diese Behauptung in einem fundamentalen Sinne gehaltvoll und auch wahr ist.
Selbstredend beanspruche ich damit keineswegs, dass ich alles über mich (sei es psychisch oder physisch) wüsste, oder über den Raum, in dem sowohl ich wie der Stuhl sich befinden, oder auch über den Stuhl selbst. Aber hier gilt m.E. die Weisheit: Teilwahrheiten sind keine Halbwahrheiten, solange man sich bewusst bleibt, dass es Teilwahrheiten sind. Man muss nicht alles wissen, um irgendetwas zu wissen.

 

Zu den "Grundlagen" in diesem Sinne gehören Beobachtungen und Begriffe, die relativ "basal" und vergleichsweise wenig "theoretisch aufgeladen" sind. Wir brauchen solche Ausgangspunkte auch deswegen, damit wir auf ihrer Basis komplexere Theorien beurteilen können. (Spätere und komplexere Messinstrumente basieren letztlich immer auf den "Grundlagen", die uns relativ unmittelbar zur Verfügung stehen.)

 

Es geht mir also um (relativ) "Einfaches", um etwas, was nicht selbst schon wieder eine spekulative Theorie ist. Und ich meine, dass es solche "Grundlagen" auch gibt. Um aus einem Artikel von Geoffrey Hunter ("The Churchlands’ Eliminative Materialism: or The Result of Impatience") zu zitieren, der mir kürzlich zufällig "in die (virtuellen) Hände" kam, und der das m.E. schön illustriert:

 

"In Mrs Churchland’s use it is claimed that changing position relative to the Earth was ‘[in] Copernicus’ time the standard criterion of whether and how anything moved’ and that without ‘a change in our concept of, or our criterion for, motion’ Copernicus’ conception of the universe wouldn’t have been possible.
Now if you look at the historical records of the objections made to Copernicus in the 16th and 17th centuries, you will not, so far as I know, find among them the objection described by Mrs Churchland. [...]  The theory that the Earth moves was current among the pre-Socratic philosophers, in particular the Pythagoreans. That pre-Socratic theory was known to Aristotle, and, through him, to his successors. And Aristotle does NOT think it self-contradictory to speak of the Earth moving. [...]
Again, it is all about theories; but despite changes in theories about motion or fire or whatever, everyday concepts like 'moves' 'is hot' seem to have remained unchanged and intelligibly applicable, whatever the Churchlands say.[...]

Some explaining is explaining away. Paradigm cases of explaining away are the cases where you explain how a conjuring trick is done. The woman isn’t really headless - it only looks as though she is: really she has her head in a black bag against a black backcloth.
But that is not how most
scientific explanation goes. Newton in his Opticks doesn’t explain away the colours the ray of sunlight passing through a prism casts on the wall (whatever Newton himself may have said or thought). The theoretical explanation of heat in terms of the kinetic energy of molecules doesn’t show that a switched on oven doesn’t get hot but only appears to get hot, or that the inside of a working fieezer isn’t really cold but only appears to be cold. Hot and cold are not explained away by science. What scientists do is to explain what makes thing hot or cold."

 

Könnten wir nicht wenigstens einigermaßen verlässlich solch "basale" Tatsachen feststellen wie die, dass etwas heiß ist, oder (relativ zu etwas anderem) in Bewegung, und könnten wir das nicht einigermaßen verlässlich unter einen gemeinsamen Begriff bringen, käme die Wissenschaft vermutlich schwer voran. Aber es scheint, dass wir das können, und deshalb könnten wir wohl auch mit einem gebildeten und geistig offenen Menschen aus der Antike diskutieren und ihm in sorgfältiger Beweisführung aufzeigen, wieso vieles, was er meint, nicht richtig sein kann. Wir hätten eben - sehr wahrscheinlich - doch eine gemeinsame empirische und begriffliche Basis, wenn man bis "ganz nach unten" geht.

 

 

Zitat

Wir sehe diese Welt nicht so, wie sie ist, sondern wie wir gelernt haben, sie zu sehen.

 

Da ist gewiss etwas Wahres dran. Die aus meiner Sicht relevante Frage lautet hier nach meinem Dafürhalten jedoch: In welchem Umfang gilt das? Gilt das auch für sehr einfache und grundlegende Dinge wie "ein Stuhl steht vor mir"?

 

Das Problem, das hier drohen könnte, ist dieses: Wenn wir nichts mehr haben, bei dem wir darauf vertrauen dürfen, dass es so ist, wie es uns erscheint, dann können wir unsere "abgehobenen" Theorien letztlich auch nicht mehr an der "Wirklichkeit" messen - sondern höchstens noch an einer, sagen wir mal: nützlichen sozialen Konstruktion. Das hieße dann aber auch, dass wir eine Theorie gar nicht im eigentlichen Sinne widerlegen (als falsch erweisen) könnten. Wir könnten dann nur noch zeigen, dass eine Theorie nicht zu unseren "tieferstufigen" sozialen Konstruktionen passt. Wir würden dann tatsächlich den Kontakt zur Wirklichkeit verlieren, selbst im Hinblick auf alltägliche Dinge.

Da wir nun aber unser Wissen über andere Menschen immer über die Sinneserfahrung bekommen, würde das dann letztlich sogar dieses Wissen infragestellen. Wenn unser Vorgehen in Bezug auf jene Sinneserfahrungen, aus denen wir um die Existenz anderer Menschen wissen, fundamental unzuverlässig wäre, dann könnten auch alle Menschen um mich herum nur "Konstruktionen" sein. Da würde dann der Solipsismus drohen - den aber kaum jemand ernsthaft in Betracht zieht. Wenn ich aber umgekehrt zugebe, dass es "tatsächlich" andere Menschen um mich herum gibt, dann weiß ich eben doch etwas "Richtiges" über die reale Welt rund um mich herum. Und wenn es zutrifft, dass es andere Menschen gibt, gibt es vermutlich auch Stühle, Berge und Bäume.  

 

Mir geht es hier also wirklich erst einmal um das ganz Basale, während Du womöglich schon an das "Anspruchsvollere" denkst.

 

Zum Beispiel der Malaria würde ich sagen, dass es erst einmal bestimmte "Daten" gibt, die man mit einem gut begründeten Anspruch auf Richtigkeit feststellen kann:

Etwa, dass Menschen in der Nähe bestimmter Sümpfe bestimmte Erscheinungen zeigen, die man naheliegenderweise als "Erkrankungen" bezeichnet, und dass Menschen weniger erkranken, wenn man die Sümpfe trockenlegt. Mehr weiß man erst einmal nicht.

 

Alle nachfolgenden theoretischen Erklärungen - selbst wenn sie zu richtigen Vorhersagen führen - bleiben spekulativ, sofern man sie nicht sorgfältig und detailliert überprüfen kann. Und es ist oft dieses "Hinausgehen" über das wirklich "Gegebene" und gut Belegbare, welches uns - selbst wenn es pragmatisch nützlich sein mag - dazu bringt, dass wir Falsches glauben.

(Das zeigt sich übrigens auch an folgendem Beispiel: Wir neigen spontan dazu, der Sonne zuzuschreiben, dass sie sich von Ost nach West bewegt. Aber eigentlich ist das auch schon eine Interpretation, die über die Beobachtung (und das, was wir ganz unmittelbar aus ihr folgern können) hinausgeht. Denn was wir wirklich wahrnehmen ist nur eine Bewegung der Sonne in Relation zu uns auf der Erde.)

 

Welchen Stellenwert dann Theorien haben, vor allem wenn sie deutlich über den uns bekannten Mesokosmos und das für uns relativ direkt "Fassabare" hinausgehen, ist eine Frage, die sich wohl schwer pauschal beantworten lässt.

Ich gehe davon aus, dass es Theorien gibt, die der Wirklichkeit zumindest einigermaßen gerecht werden. So nehme ich stark an, dass etwa die Theorie des Blutkreislaufs grundsätzlich wahr ist, auch wenn sicher manches unbekannt oder unverstanden ist und Details falsch sein mögen.

Auch denke ich, dass wir heute im schon ganz gut wissen, wie Malaria übertragen wird, auch wenn uns natürlich Details immer noch unbekannt sind oder wir uns in dem einen oder anderen Punkt irren mögen. Aber da würde ich erneut das Prinzip bemühen, dass Teilwahrheiten keine Halbwahrheiten sein müssen, wenn man sich bewusst bleibt, es mit Teilwahrheiten zu tun zu haben. Wir wissen beispielsweise sicher vieles noch nicht - aber es würde mich überraschen, wenn sich herausstellen sollte, dass nicht Plasmoiden, sondern ganz andere Lebensformen oder Ursachen hinter der Malaria stünden. (Ebenso würde es mich überraschen, wenn sich herausstellen sollte, dass unsere Überzeugungen über Plasmodien "grundfalsch" sind.)

 

Bei anderen Theorien, etwa aus der Teilchenphysik, würde es mich (zugegeben als Laien!) nicht wundern, wenn etwas grundlegend nicht stimmt und in hohem Maße überholungsbedürftig ist; und auch im Fall der allgemeinen Theorien der Astrophysik würde sich meine Überraschung in Grenzen halten, wenn es da zu erheblichen Veränderungen käme. Andererseits glaube ich schon, dass die Rückseite des Mondes doch einigermaßen so aussieht, wie wir das meinen (wobei das ja eher ein Befund als eine Theorie ist). Je "abstrakter" Theorien werden und je weniger sie im Detail prüfbar sind, desto eher besteht sicher die Gefahr, dass sie nicht nur im Detail, sondern in einer "fundamentaleren" Weise falsch sind.

 

Zitat

Der Begriff der Wahrheit, der dir in der Beurteilung einzelner Sätze so wichtig ist, zeigt sich aus meiner Sicht über den Lauf der Geschichte als ein untauglicher. Alles, was wir in einem gegebenen Augenblick für richtig halten, zeigt sich aus dieser Sicht als eine Momentaufnahme in einer Abfolge von Irrtümern, in der unsere Vorstellungen, wenn wir Glück haben, zunehmend realistisch werden, oder wenn nicht, dann weniger (auch das ist schon häufig vorgekommen). Der Komparativ, der Vergleich, das Mehr oder Weniger an Realitätsgerechtigkeit erscheint mir ein viel tauglicherer Zugang. 

 

Dem würde ich tendenziell wohl sogar zustimmen, aber mit gewissen Einschränkungen:

 

- Wie gesagt gehe ich davon aus, dass wir zumindest gewisse (mit großer Wahrscheinlichkeit) "wahre" Grundlagen brauchen, um von ihnen ausgehend Theorien zu konstruieren und auch zu destruieren. Denn nur wenn wir wissen, dass es wahr ist, dass eine bestimmte Beobachtung B gemacht wurde, welche einer bestimmten Theorie T widerspricht, können wir schlussfolgern, dass mit Beobachtung B zugleich die Theorie T widerlegt wurde. Die Anerkennung eines entsprechend "basalen" Wissen dürfte wie gesagt auch notwendig sein, um dem Soplipsismus zu entkommen und sich nicht allzu radikal von der natürlichen Wirklichkeitsauffassung zu entfernen.

 

- Zudem gehe ich davon aus, dass wir schon manches über diese Welt wissen können, was einer "echten" Erkenntnis entspricht oder ihr zumindest sehr nahekommt. Dabei geht es sicher oft mehr um konkrete Sachverhalte als um abstrakte Theorien, und vermutlich vor allem auch um Sachverhalte, die uns einigermaßen direkt zugänglich sind. In diesem Zusammenhang bemühe ich erneut das Prinzip, dass Teilwahrheiten, von denen man weiß, dass es nur Teilewahrheiten sind, nicht zwingend Halbwahrheiten sein müssen. So halte ich es für sehr wahrscheinlich wahr, dass es in der Arktis Eisbären, aber keine Pinguine gibt (im Sinne des natürlichen Lebensraumes). Damit würde ich allerdings nicht beanspruchen, dass ich alles über die Arktis, über Eisbären oder Pinguine weiß. Ich glaube aber zumindest so viel zu wissen, dass meine Rede Sinn und Gehalt hat.

 

- Wie dargelegt gehe ich davon aus, dass es Erkenntnisse im strengen Sinne gibt, die sich nicht unmittelbar auf die konkrete Welt um uns herum beziehen, sondern beispielsweise eben auf unser Denken selbst oder auf notwendige Geltungszusammenhänge. Zum Teil gehören diese Erkenntnisse schon in den Alltag. (Offenbar halte ich solche Fragen für relevanter als Du, aber das ist vielleicht auch einfach eine Sache des Fokus und des Interesses.)

 

Zitat

 

Der Komparativ, der Vergleich, das Mehr oder Weniger an Realitätsgerechtigkeit erscheint mir ein viel tauglicherer Zugang. 

 

Aber er impliziert natürlich einen ganz anderen Gedankengang, ein ganz anderes Set von gedanklichen Werkzeugen. Es beginnt damit, daß das Subjekt der Erkenntnis nicht mehr "der einzelne Mensch" ist, sondern daß die gedanklichen Werkzeuge, deren wir uns in unserem Alltag bedienen, über Generationen von Menschen entwickelt und weitergegeben wurden. Die gedanklichen Werkzeuge können aus meiner Sicht dabei nur verstanden werden, wenn man sie als Ergebnis eines sozialen Prozesses begreift, der die Auseinandersetzung einer oder sogar mehrerer Gesellschaften von Menschen mit ihrer jeweiligen Lebensumgebung beobachtet. 

 

 

Dem würde ich grundsätzlich wohl durchaus weitgehend zustimmen. Aber das ist m.E. nur die eine Perspektive. Bei dieser geht es darum, wie sich die Dinge in der Wissenschaft tatsächlich entwickeln, und welche sozialen, historischen, institutionellen Gründe das hat. Damit bleibt jedoch die Frage nach Wahrheit und Geltung noch unbeantwortet: Denn wenn man vielleicht weiß, wie sich eine bestimmte Überzeugung sich historisch und sozial entwickelt hat, heißt noch nicht, dass man auch wüsste, ob die entsprechende Überzeugung auch wahr ist. Und wenn man weiß, wie ein bestimmtes Verfahren entstanden ist und wie es sich durchgesetzt hat, weiß man allein deswegen noch nicht, ob es auch gültig ist.

 

Die Frage nach Wahrheit und Geltung ist m.E. jedoch nicht abweisbar, denn wir gehen immer davon aus, dass wir zumindest irgendetwas im engeren Sinne als wahr erkennen. Und sei es beispielsweise "nur", dass wir sagen,

 

- dass unser Erkenntnisvermögen tatsächlich (das heißt: "in Wahrheit") in einer für die Wissenschaft relevanten Weise limitiert ist, und wir uns der Welt mit unseren Theorien und Forschungen (zumindest in vielen Fällen) tatsächlich  nur "annähern" können,

 

- dass wir falsche Theorien tatsächlich unter günstigen Bedingungen widerlegen können,

 

- dass wir tatsächlich in sozialen Gemeinschaften leben,

 

- dass das Projekt de Wissenschaft tatsächlich ein soziales Projekt in dem von Dir beschriebenen Sinne ist.

 

Denn man würde ja in allen diesen Fällen nicht sagen wollen, dass diese Äußerungen allesamt nur Fantasien oder Einbildungen seien. Vielmehr will man doch behaupten, dass mit den entsprechenden Aussagen tatsächlich etwas "Gültiges" über die menschliche Spezies, ihre kollektiven Bemühungen um Wissen und ihr Verhältnis zur Welt gesagt wurde. (Zwar könnte man könnte die gerade angeführten Aussagen dahingehend abschwächen, dass die nur wahrscheinlich und nur näherungsweise korrekt seien - aber wenn damit etwas Relevantes gesagt werden soll, muss dann wenigstens das "zutreffen". )

 

Anders gesagt: Wann immer wir behaupten, dass sich etwas "wirklich" so und so verhält, und nicht anders, kommen wir um die Begriffe der "Wahrheit" und "Erkenntnis" nicht herum. Auch wenn man in der empirischen Wissenschaft beispielsweise tatsächlich völlig ohne den Begriff der Wahrheit auskäme (was ich wie gesagt für falsch halte), würde man ihn doch auf jener Metaebene, auf welcher man aussagt, dass die Wissenschaft ohne ihn zurechtkommt, wenigstens implizit wieder in Anspruch nehmen. (Eben indem man eben etwas über die Wissenschaft und ihr Verhältnis zum "Wahrheitsbegriff" sagt, was tatsächlich "zutreffen" soll.)

 

Ganz ohne Wahrheit und Erkenntnis geht es also nicht, solange man an irgendeiner Stelle etwas im eigentlichen Sinne behaupten möchte (oder solange man Behauptungen bestreiten möchte). Und in diesem Moment ist es dann auch eine grundsätzlich legitime Frage, wie die Rechtfertigung oder Begründung von "Wahrheitserkenntnis" aussehen kann.

 

Natürlich könnte versucht sein, zu antworten, dass die biologische und die soziale Evolution die unvermeidlichen Wahrheits- und Erkenntnisansprüche rechtfertigen würden. Die biologische Evolution sowie die sozialen Evolution der Wissenschaften würden garantieren, dass wir diejenigen "wahren Erkenntnisse", auf welche wir nicht verzichten können, auch in der Tat besitzen. (Mit "sozialer Evolution" bzw. "kultureller Evolution" meine ich hier im Sinne der Wissenssoziologie insbesondere auch jene sozialen Prozesse, die für den den Erwerb von Wissen maßgeblich sind.) Die Argumentation ginge etwa so:

 

1) Die biologische und kulturelle Evolution haben tatsächlich stattgefunden (bzw. finden noch statt), und zwar wenigstens ungefähr so, wie wir das annehmen.
2) In der (biologischen wie auch kulturellen) Evolution setzt sich gewöhnlich das durch, was nützlich ist.
3) Die Erkenntnis der Wahrheit ist nützlich.
4) Also können wir - jedenfalls in manchen Fällen - die Wahrheit erkennen.

 

Aber wie Du (wenn ich Dich nicht grundlegend missverstehe) selbst sagst, führen weder die biologische Evolution noch die soziale Prozesse zwangsläufig zur Wahrheitserkenntnis. Und letztere ist wohl auch keineswegs in dieser generellen Weise nützlich. Prämisse 3 ist also mindestens fraglich. (Ich möchte hier auch keineswegs den Eindruck erwecken, Du würdest im obigen Sinne argumentieren, sondern ich behandle diese Art Argumentation nur aus systematischen Gründen.)

 

Und wichtiger noch: Das Wissen um biologische und soziale Entwicklung ist uns ja nicht unmittelbar gegeben. Wir können es vielmehr nur aus vielem anderen erschließen. Es steht am Ende einer langen Ableitungskette, einer langen Kette von Schlussfolgerungen. Das würde dann jedoch zu einem Begründungszirkel führen: Bevor wir mit Rekurs auf die biologische oder soziale Evolution beweisen können, dass wir überhaupt etwas Wahres erkennen können, müssten wir zuvor schon sehr Wahres erkannt haben. Erkenntnis und ihre Geltung können nicht einfach "von außen" gerechtfertigt werden.

 

Damit streite ich selbstredend nicht ab, dass der systematische "Erwerb von Wissen" kaum möglich wäre, wenn Menschen nicht auf den (auch methodischen) Leistungen ihrer Vorgänger aufbauen und zusammenarbeiten würden. Und selbstredend kann man das - und soll man das - soziologisch untersuchen.

Aber zum einen ist damit die Frage nicht beantwortet, wie man jene "wahre Erkenntnisse", welche nach meinem Dafürhalten aus den dargelegten Gründen unverzichtbar sind, im geltungstheoretischen Sinne rechtfertigen kann. Und zum anderen bleiben damit zugleich auch weitere Fragen unbeantwortet, die aus meiner Sicht jedoch legitim und sinnvoll sind. Rein beispielhaft etwa diese:

 

- Wenn wir in der Wissenschaft eine These "widerlegen", beweisen wir dann, dass diese These tatsächlich nicht auf die Wirklichkeit zutrifft? Oder beweisen wir nur, dass die entsprechende These nicht mit einer basaleren "kulturellen Matrix" vereinbar ist, in der wir zu denken gelernt haben?

 

- Die Naturwissenschaft benutzt den induktiven Schluss (und kommt ohne ihn auch kaum aus, auch wenn Popper das anders gesehen haben mag). Aber ist dieser Schluss auch gerechtfertigt? Sicher: Die Wissenschaft ist in einem pragmatischen Sinne erfolgreich. Aber könnte es nicht sein, dass der Preis dafür ist, dass sie immer mehr falsche Thesen akzeptiert, statt immer mehr falsche Thesen auszusondern?

 

Das und ähnliches sind eben doch auch Fragen, die unser Welt- und Wissenschaftsverständnis grundsätzlich berühren.

 

Aus den dargelegten Gründen ist eine philosophisch-erkenntnistheoretische Perspektive nach meiner Überzeugung eben auch legitim. Nicht, um eine sozialwissenschaftliche zu ersetzen, sondern um sie zu ergänzen. Die sozialen Grundlagen der Wissenschaft sind ein wichtiges Thema - aber "geltungstheoretische" Fragen haben aus meiner Sicht auch ihren Platz. Ob man sie für interessant genug hält, um sich mit ihnen zu befassen, oder sich lieber auf andere relevante Gesichtspunkte konzentriert, ist dann natürlich vor allem eine Frage des persönlichen Interesses.  ;)  

bearbeitet von iskander
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