iskander Geschrieben 9. Januar Melden Share Geschrieben 9. Januar (bearbeitet) vor 6 Stunden schrieb Marcellinus: Aber es gibt auch noch die Welt außerhalb der Philosophie. Gewiss! Zitat In allen diesen Fällen werden nicht Aussagen ausgetauscht, sondern Menschen machen ganz einfach Erfahrungen, und manche von ihnen verlieren dabei auch ihr Leben. Sicher! Aber damit die Erfahrungen von Nutzen sind, muss aus ihnen doch auch Wissen resultieren. Vielleicht kein Wissen darum, wie die Welt "wirklich" aussieht - aber zumindest das Wissen darum, dass eine bestimmte Art, die Welt zu betrachten, nützlich ist, während eine andere Perspektive uns nicht weiterbringt. Etwas im Sinne von: "Vielleicht ist die Theorie A nicht wahr, aber jedenfalls erklärt sie vieles und stimmt bisher gut mit unseren Beobachtungen überein. Die Theorie B hingegen widerspricht den Beobachtungen X,Y und Z." Und auch diese Art von Wissen würde man vernünftigerweise in Form von "Aussagen" formulieren (wie ich es gerade angedeutet habe), wenn man es an andere weitergeben möchte. Zitat Der Erwerb von Wissen ist also ein Wechselspiel von Tatsachenbeobachtung und Modellbildung, wobei im günstigen Fall die Modelle auf Beobachtungen beruhen, und weitere Beobachtungen ermöglichen, die diese Modelle entweder bestätigen, modifizieren oder widerlegen, um zu besseren Modellen zu führen. So entsteht im Wechselspiel zwischen Empirie und Theorie praktisches, politives Wissen, immer vorläufig, aber realistisch, und damit einen Chance für die Menschen, sich in ihrer Welt erfolgreicher zu orientieren und damit zu leben und überleben. Ohne diesen Gewinn an realistischerem Wissen (der Komparativ ist hier entscheidend) gäbe es die erfolgreiche Ausbreitung der Menschen über diesen Erdball nicht. Sie ist nicht das Ergebnis philosophischer Diskussionen über die Gültigkeit von Sätzen, sondern das sich Durchsetzen von erfolgreichen Lösungen praktischer Probleme. Kein Zweifel. Aber kann sich natürlich dennoch legitimerweise fragen, woher Menschen wissen, dass beispielsweise das, was sie zu beobachten glauben, auch stimmt - oder warum es zumindest innerhalb eines Systems nützlich ist. Oder wie die Leute ein Modell (immerhin ein reines Abstraktum!) mit der "realen" empirischen Beobachtung vergleichen können. Oder warum der induktive Schluss, den man ständig braucht (auch für die Falsifikation), mit bestimmten Einschränkungen gültig ist. Oder was denn gemeint ist, wenn ein Wissenschaftler beispielsweise von "Verursachung" spricht - denn was "Verursachung" ist, behandeln die Einzelwissenschaften gewöhnlich nicht, auch wenn sie den entsprechenden Begriff verwenden und dieser offensichtlich auch etwas bedeuten soll. Usw. Es ergeben sich einfach naheliegende, legitime Fragen. Man muss diese Fragen nicht zwingend stellen. Man mag sich damit zufrieden geben zu sagen: "Irgendwie funktioniert es doch!" Aber man kann sich fragen, wieso es funktioniert. Zitat Dieser Prozeß ist ohne bestimmbaren Anfang und auch erst zu Ende, wenn es keine Menschen mehr gibt. Jeder Mensch und sein Wissensstand ist das Produkt der Generationen, die vor ihm kamen, und der Prozeß des Wissenserwerbs ist nicht einfach die Frage danach, ob eine einzelne Aussage richtig ist oder falsch, sondern ob sich eine gewisse Art, Probleme zu lösen, in der Wirklichkeit bewährt, oder einfach auch nur durchsetzt. Durchsetzen heißt dabei nicht etwa: "wahr" sein, sondern angewandt und weitergegeben zu werden an die nächste Generation. Die Frage ist halt die: Soll die Wissenschaft irgendetwas aussagen, was auf die Wirklichkeit zutrifft? Und sei es auch nur in dem Sinne, dass dass eine bestimmte Theorie falsch ist? Also im Sinne von "wirklich" falsch? Oder vielleicht auch noch, dass eine bestimmte Theorie die Wirklichkeit besser beschreibt als eine andere Theorie? Wenn ja, dann sind das Aussagen, mit denen beansprucht wird, etwas zu sagen, was "zutrifft" - und die einer gültigen Begründung bedürfen. Nehmen wir umgekehrt an, dass es der Wissenschaft nicht einmal in dem gerade ausgeführten, relativ bescheidenen Sinne um "Zutreffendes" geht, sondern wirklich nur darum, was sich faktisch durchsetzt. Die Wissenschaft könnte demnach weder gültig eine Theorie widerlegen, noch der phyischen Wirklichkeit im Lauf der Zeit auch nur ein Stück weit gerechter werden. Gut, in letzterem Fall braucht man dann tatsächlich nicht mehr so viel "Wahrheit". Nur wäre das dann eben ein sehr skeptischer Wissenschaftsbegriff. Im Grunde bräuchte man dann Modelle auch gar nicht an der Beobachtung messen, weil man auch nichts widerlegen könnte. Die Wissenschaft würde sich in diesem Fall nicht von Mythen unterscheiden. Und das ist ja auch nicht Deine Position, wenn ich Dich richtig verstehe. (Und selbst bei solch einem grund-pessimistischen Verständnis von Wissenschaft dann immer noch noch "zutreffend", dass die Wissenschaft in dieser und jener Weise verfährt und nicht anders, und dass ihre Ergebnisse - nach Annahme - rein gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun hätten. Und es müsste immer noch Kriterien geben, anhand derer jemand erkennen kann, ob etwas im Sinne eines solchen Systems "korrekt" ist oder nicht, sofern Regelhaftigkeit und kein Chaos herrschen soll. Ganz ohne Wahrheit, Erkennen und Begründen ginge es also auch da nicht.) Und man muss hier auch zwei Reihen unterscheiden: Die Reihe der historischen Weitergabe von Wissen und die Reihe der Begründung. Im Sinne einer umfassenden Begründung muss ich immer mit dem beginnen, was mir direkt "gegeben" ist, was ich "unmittelbar" weiß. Alles andere wird von mir daraus abgeleitet und erschlossen. Wenn ich also "ausführlich" begründen will, dass ich etwas weiß, kann ich nicht unmittelbar bei den Generationen vor mir anfangen, denn ich habe keinen unmittelbaren Zugang zu ihnen oder ihren Ergebnissen. Ich muss erst einmal ein wenig bei mir, meinem Denken und meiner (Lebens)erfahrung beginnen. Und aus diesen kann ich dann auch in einem weiteren Schritt schließen, dass es vor mir Generationen gab, die Wissenschaft getrieben haben, und dass die Ergebnisse, die diese Leute aufgeschrieben haben, im Normalfall vertrauenswürdig sein dürften. Und dieses Wissen kann ich dann natürlich wieder in Bezug zu anderem Wissen setzen und auf diese Weise fortschreiten. Zitat Es gibt kein objektives Kriterium und keine Methode außerhalb der beteiligten Menschen, das garantieren würde, daß sich der Wissensbestand einer Gesellschaft in Richtung auf mehr Realitätsgerechtigkeit entwickelt, wenn die beteiligten Menschen sich nicht darum bemühen oder die Umstände es nicht erlauben. Das mag ja durchaus sein - aber die "beteiligten Menschen" müssten dann im Prinzip sagen können, was ihre Kriterien und ihre Methoden sind, und warum sie ausgerechnet diese wählen. Und wenn man davon ausgeht, dass Wissenschaft zumindest in dem oben beschriebenen, schwachen und eingeschränkten Sinne Aussagen tätigt, die Anspruch auf "Geltung" erheben, sollte man auch angeben können, warum es rational gerechtfertigt ist, ebendiese Kriterien und Methoden in Anschlag zu bringen und keine anderen. Aber die Wissenschaften tun letzteres eben nur bis zu einem gewissen Punkt, aber nicht darüber hinaus. Wenn das (im obigen bescheidenen Sinne zu verstehende) Wissen, welches die Wissenschaften generieren, aber "gültig" sein soll, dann muss es zumindest prinzipiell eine Begründung über diesen Punkt hinaus geben. Zitat Und so hat die Menschheit durchaus schon einige Phase durchlitten, in denen ihr Bestand an gesichertem, realitätsgerechten Wissen verfallen ist, und Phatasievorstellungen seinen Platz eingenommen haben. Wenn man beobachtet, welch geringen Wert realistisches Wissen gegenüber Wunsch- und Angstträumen in der breiten Öffentlichkeit hat, dann scheinen wir gerade wieder in einer solchen Phase zu sein. Da ist vermutlich leider einiges dran. Aber die Unterscheidung zwischen (mehr oder weniger) "gesichertem, realitätsgerechten Wissen" und reinen "Träumen" bleibt relevant. Das eine muss sich gültig begründen lassen, während das andere eben unbegründet ist. bearbeitet 9. Januar von iskander Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
iskander Geschrieben 9. Januar Melden Share Geschrieben 9. Januar (bearbeitet) Um diesen Punkt vielleicht noch zu ergänzen, weil er von Bedeutung ist und womöglich einen "Knackpunkt" der ganzen Diskussion darstellt: Auch wenn Beobachtungen - die oft genug nur einen Moment andauern - sinnlich sind, so erfolgt doch das Begreifen der Beobachtung sowie ihre Interpretation und Auswertung im Denken. Und auch das "In-Bezug-Setzen" der einen Beobachtung mit anderen Beobachtungen und mit Hypothesen und Theorien erfolgt im Denken. Wir denken uns beispielsweise etwas wie: "Wenn das Glas, das ich zwischen die Drähte geklemmt habe, Strom geleitet hätte, dann hätte die Lampe leuchten müssen, als ich den Schalter umgelegt habe. Die Lampe hat aber nicht geleuchtet. Also ist offenbar kein Strom durch das Glas hindurchgeflossen. Das gleiche Experiment hatte ich schon gestern gemacht, aber mit einem anderen Stromkreislauf und ein anderes Stück Glas, und mit dem gleichen Ergebnis. Außerdem habe ich mit dem gleichen Versuchsaufbau mit einem Stück Kupfer, das bekanntlich den Strom leitet, die Gegenprobe gemacht, und da hat die Lampe hell geleuchtet. Meine Ergebnisse beruhen also vermutlich nicht auf einem Mess-Fehler, sondern es scheint vielmehr so zu sein, dass Glas tatsächlich keinen Strom leitet." In diesem Fall haben wir Gedanken(inhalte), die in einem gewissen logischen Verhältnis zueinander stehen. Und natürlich ist das nur ein Ausschnitt. Es stehen ja noch viele andere Gedanken im Hintergrund - beispielsweise Gedanken, mit denen wir begründen würden, dass beim Fließen von Strom die Lampe stets leuchtet, sofern nur ein stromleitendes Material zwischen die Drähte geklemmt wird. Und diese Gedanken stehen zu anderen Gedanken in logischen Beziehungen, etwa im Sinne von "Wenn A, dann B" oder "Wenn nicht A, dann nicht B" oder "Wenn A und B, dann C" usw. Tatsächlich haben wir es hier mit einem komplexen logischen Schluss zu tun: Wir folgern daraus, dass bestimmte Gedanken "zutreffen", dass auch andere Gedanken "zutreffen". Das ist nichts anderes als ein "Beweis" oder "Argument". Unser Denken muss dabei nicht zwingend sprachlich vonstatten gehen, jedenfalls nicht allgemein. Man kann auch Überlegungen anstellen, ohne innerlich oder gar laut zu sprechen. Wenn ich beispielsweise durch einen engen Gang gehe und mir eine beleibte Person entgegenkommt, dann gehe ich zur Seite. Ich denke dabei aber nicht in deutschen oder anderen Worten: "Da kommt mir eine beleibte Person entgegen und es ist hier eng, also gehe ich zur Seite." Wenn ich jedoch bewusst zur Seite gehe - also nicht rein instinktiv - könnte ich die Frage, wieso ich gerade zur Seite gegangen bin, aber sofort verbal beantworten, sollte mich jemand nach meinem Verhalte fragen. Oder wenn ich meinen Schlüssel vergessen habe, spreche ich nicht in meinem Inneren in deutschen oder anderen Worten: "Oh, ich habe den Schlüssel vergessen. Ich will ihn wieder haben. Also muss ich jetzt umkehren und ihn suchen." Trotzdem könnte ich die Frage, warum ich umkehre, sofort beantworten. Ich fasse hier also durchaus Gedanken, die ich zwar nicht spontan verbalisiere, die ich aber leicht verbalisieren könnte. Und auch bei diesen Beispielen stehen meine Gedanken in logischen Verhältnissen: Ich weiß, dass meine Chance, eine Kollision mit einer anderen Person zu vermeiden, höher sind, wenn ich zu Seite gehe, und ich weiß auch, dass ich eine Kollision vermeiden möchte. Also weiß ich auch, dass es sinnvoll ist, wenn ich zur Seite gehe. Und ich weiß, wo ich meinen Schlüssel vergessen habe, und ich weiß auch, dass er wahrscheinlich noch dort liegt und für einige Zeit liegen wird, wo ich ihn vergessen habe. Also weiß ich auch, dass es sinnvoll ist, mich genau zu diesem Ort zu begeben, wenn ich meinen Schlüssel wieder haben möchte. Auch hier haben wir es mit logischen Schlüssen oder, wenn man so will, "Argumenten" zu tun. Das läuft natürlich in hohem Maße intuitiv ab, ohne dass wir uns vielleicht explizit bewusst sind, dass wir hier logisch schlussfolgern. Der springende Punkt ist aber der: Wir wissen in solchen Fällen, dass unser Verhalten vernünftig bzw. folgerichtig ist, und wir könnten es auch leicht erklären und argumentativ belegen. Fragt mich etwa jemand, wieso ich meinen Schlüssel hier und nicht woanders suche, würde ich antworten: "Weil ich ihn den Schlüssel eben hier liegengelassen habe und nicht woanders." Weitere Gedanken/Prämissen meines Argumentes - wie etwa die Prämisse, dass es wahrscheinlich ist, dass der Schlüssel noch dort liegt, wo ich ihn liegen gelassen hatte -, würde ich nicht extra verbalisieren, da sie im Kontext selbstverständlich sind (bzw. in diesem Gedankenexperiment selbstverständlich sein sollen). Solche Prämissen können daher implizit bzw. unausgesprochen bleiben - aber sie stehen natürlich weiter im Hintergrund, denn wenn sie nicht zuträfen, so wäre mein Verhalten ja nicht vernünftig und meine Begründung nicht überzeugend. "Gedanken" und ihre logische Bearbeitung sind also nicht nur in der Wissenschaft, sondern sogar im Alltag unverzichtbar, wenn wir etwas verstehen oder Erkenntnisse sammeln wollen. Das überrascht vielleicht auch nicht, wenn wir uns klarmachen, dass wir uns eben durch unser Denken auf die Welt um uns herum beziehen, und dass unser Denken vernünftig sein muss, wenn wir dabei etwas Sinnvolles herauskommen soll. Das heißt natürlich nicht, dass etwa die sinnliche Wahrnehmung und die durch sie erst mögliche Beobachtung unwichtig oder obsolet wäre. Mitnichten! Im Fall der empirischen Forschung - und in vielen anderen Zusammenhängen - ist die sinnliche Wahrnehmung eindeutig absolut unverzichtbar. Es dürfte jedoch gelten: Wenn also Beobachtungen und Experimente auch etwas anderes sind als "Denken", und wenn sie auch in vielen Zusammenhängen absolut notwendig sind, sofern wir etwas erkennen wollen, so lernen wir doch erst mithilfe unseres Denkens und seiner Logik etwas aus Beobachtung und Experiment. In der Philosophie oder Logik spricht man im Zusammenhang mit Wissen und Schlussfolgerungen oft von Sätzen und nicht von Gedanken (oder Überzeugungen usw.). Das hat wohl verschiedene Gründe. Sätze klingen "objektiver" als Gedanken und weniger nach Psychologie. Wenn wir über "Sätze" sprechen, konzentrieren wir uns auf den Inhalt des Gemeinten und nicht auf die Person oder Psyche von jemandem. Zudem können wir uns unsere Gedanken gewöhnlich nur sprachlich gegenseitig mitteilen. Dabei bleibt aber eines entscheidend: "Gedankeninhalte" lassen sich grundsätzlich sprachlich mitteilen (auch wenn es problematische Fälle geben kann); und umgekehrt lassen sich (sinnvolle) Sätze - oder das, was sie aussagen - in Gedanken fassen und denken. Es besteht insofern hier fast so etwas wie eine "Äquivalenz". Wenn in diesem Kontext etwas über "Sätze" gesagt werden kann, kann es auch fast immer über "Gedanken" gesagt werden und umgekehrt. Dass ein Argument oder Beweis als ein logischer Schluss betrachtet werden kann, bei dem mithilfe von als wahr angenommenen Sätzen auf die Wahrheit eines anderen Satzes geschlossen wird, ist also korrekt; so wie es auch korrekt ist zu sagen, dass ein Argument oder Beweis darin besteht, dass man logisch mithilfe von als wahr angenommenen Gedanken auf die Wahrheit eines anderen Gedankens schließt. Das gilt für unser alltägliches Schlussfolgern und Argumentieren, und es gilt auch für komplexe wissenschaftliche Beweise; und dabei spielt es keine Rolle, ob ein Beweis bestätigend - oder wie im obigen Beispiel mit dem elektrischen Strom - widerlegend ist. Und es ist letztlich auch nicht wichtig, ob man nun beweisen möchte, dass es zutrifft, dass eine bestimmte Überzeugung wahr ist, oder ob man beweisen möchte, dass es zutrifft, dass eine bestimmte Überzeugung falsch ist, oder ob man beweisen möchte, dass es zutrifft, dass eine bestimmte Überzeugung nützlich ist. bearbeitet 9. Januar von iskander Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Marcellinus Geschrieben 9. Januar Melden Share Geschrieben 9. Januar vor 19 Stunden schrieb iskander: Aber kann sich natürlich dennoch legitimerweise fragen, woher Menschen wissen, dass beispielsweise das, was sie zu beobachten glauben, auch stimmt - oder warum es zumindest innerhalb eines Systems nützlich ist. Oder wie die Leute ein Modell (immerhin ein reines Abstraktum!) mit der "realen" empirischen Beobachtung vergleichen können. Oder warum der induktive Schluss, den man ständig braucht (auch für die Falsifikation), mit bestimmten Einschränkungen gültig ist. Oder was denn gemeint ist, wenn ein Wissenschaftler beispielsweise von "Verursachung" spricht - denn was "Verursachung" ist, behandeln die Einzelwissenschaften gewöhnlich nicht, auch wenn sie den entsprechenden Begriff verwenden und dieser offensichtlich auch etwas bedeuten soll. Usw. Es ergeben sich einfach naheliegende, legitime Fragen. Man muss diese Fragen nicht zwingend stellen. Man mag sich damit zufrieden geben zu sagen: "Irgendwie funktioniert es doch!" Aber man kann sich fragen, wieso es funktioniert. Ich weiß nicht, in welcher Welt du lebst. Nehmen wir einen Astronomen. Er beobachtet, daß ein Himmelskörper nicht da ist, wo er der Theorie nach sein sollte. Das bisherige Modell ist also gescheitert. Später findet er oder ein Kollege einen weiteren Himmelskörper, der ihnen bisher entgangen war, weil so weit weg oder so klein oder beides, dessen Masse die Bahnabweichung des ersten verursacht. Problem gelöst! Aber es wurde nicht durch einen Austausch von Argumenten gelöst, und es hat auch niemand gefragt, ob die Beobachtung eines neuen Himmelskörpers ein "gültiger Schluß" sei. Theoretisch-empirische Wissenschaften suchen nach Modellen, die die Zusammenhängen zwischen einzelnen Beobachtungen zuverlässig beschreiben. Da geht es weder um Induktion noch um Deduktion, sondern um den ständigen Wechsel zwischen empirischer Beobachtung und theoretischer Modellbildung. Bei dir liest es sich so, als sei Wissenschaft ein Regel- und Formelsystem wie die Mathematik, in dem es vor allem darum gehe, zu schauen, ob die Regeln und Formeln richtig angewandt werden, um zu "gültigen" Ergebnissen zu kommen, wobei die Elemente, auf die die Formeln angewendet werden, aus der gleichen Mengen stammen wie die Ergebnisse, deren Gültigkeit überprüft werden soll, und der Forschungsprozeß ist vor allem ein Diskussionsprozeß. Aber die Praxis sieht anders aus. Ja, unsere Modelle bestehen aus menschengemachten Symbolen, Begriffen, Formeln, Definitionen, was auch immer. Aber die Wirklichkeit, deren Beobachtungen wir zu erklären versuchen, sind keine Symbole, sondern eben wirkliche Objekte. Denen kommt man nicht mit Aussagenlogik bei, sondern nur mit theoretisch-empirischer Arbeit. Da gibt es keine festen Prämissen, aus denen sich deduktiv "gültige" Aussagen ableiten ließen. Die Wirklichkeit kümmert sich nicht um deine Ableitungen, und sie besteht auch nicht aus "Sätzen". Du kannst höchsten versuchen, sie mit Sätzen zu beschreiben, aber die müssen dann nicht zu irgendwelchen anderen Sätzen passen, sondern zur beobachtbaren Wirklichkeit. Deine Philosophie spielt in einem akademischen Elfenbeinturm, in dem die Philosophen meinen die Regeln vorgeben zu können. Nur mit den theoretisch-empirischen Wissenschaften hat das nichts zu tun. Es geht nicht darum, ob eine Idee in ein menschengemachtes Symbolsystem paßt, sondern ob es in der Wirklichkeit funktioniert, ob also ein Satellit auf einem Himmelskörper heil ankommt oder nicht. Das letzte Wort hat immer das Experiment, nicht der auf "Gültigkeit" prüfende Philosoph! Und wo es solch ein Experiment nicht gibt, da bleiben nur Vermutungen, ganz egal, wie "schlüssig" die Argumentation war, die dahin geführt hat. Deshalb schreibe historische Wissenschaften, egal ob Archäologie oder Paläontologie, ihre Bücher notgedrungen alle paar Jahre um, wenn mal wieder jemand irgendwo etwas ausgegraben hat, mit dem keiner rechnen konnte. Was die Philosophie dagegen macht, wenn sie meint, die "Gültigkeit" von Aussagen aus einer logischen Abfolge von "Sätzen" ableiten zu können, ist schlicht das Verwechseln der Wirklichkeit mit ihrem Bild davon. Während wir die Zusammenhänge zwischen beobachtbaren Objekten oftmals nur grob kennen, und deshalb immer wieder Ergebnisse entstehen können, die wir nicht erwartet haben, ist es auch Unsinn, zu glauben, man könne die empirische Beobachtung durch logische Operationen zwischen "Sätzen" ersetzen. Das ist eine Papierfantasie, die innerhalb eines philosophischen Modells funktionieren mag, aber nicht in der Wirklichkeit. Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Ennasus Geschrieben 9. Januar Melden Share Geschrieben 9. Januar vor 4 Stunden schrieb iskander: Unser Denken muss dabei nicht zwingend sprachlich vonstatten gehen, jedenfalls nicht allgemein. Man kann auch Überlegungen anstellen, ohne innerlich oder gar laut zu sprechen. Wenn ich beispielsweise durch einen engen Gang gehe und mir eine beleibte Person entgegenkommt, dann gehe ich zur Seite. Ich denke dabei aber nicht in deutschen oder anderen Worten: "Da kommt mir eine beleibte Person entgegen und es ist hier eng, also gehe ich zur Seite." Wenn ich jedoch bewusst zur Seite gehe - also nicht rein instinktiv - könnte ich die Frage, wieso ich gerade zur Seite gegangen bin, aber sofort verbal beantworten, sollte mich jemand nach meinem Verhalte fragen. Oder wenn ich meinen Schlüssel vergessen habe, spreche ich nicht in meinem Inneren in deutschen oder anderen Worten: "Oh, ich habe den Schlüssel vergessen. Ich will ihn wieder haben. Also muss ich jetzt umkehren und ihn suchen." Trotzdem könnte ich die Frage, warum ich umkehre, sofort beantworten. Ich fasse hier also durchaus Gedanken, die ich zwar nicht spontan verbalisiere, die ich aber leicht verbalisieren könnte. Und auch bei diesen Beispielen stehen meine Gedanken in logischen Verhältnissen: Ich weiß, dass meine Chance, eine Kollision mit einer anderen Person zu vermeiden, höher sind, wenn ich zu Seite gehe, und ich weiß auch, dass ich eine Kollision vermeiden möchte. Also weiß ich auch, dass es sinnvoll ist, wenn ich zur Seite gehe. Und ich weiß, wo ich meinen Schlüssel vergessen habe, und ich weiß auch, dass er wahrscheinlich noch dort liegt und für einige Zeit liegen wird, wo ich ihn vergessen habe. Also weiß ich auch, dass es sinnvoll ist, mich genau zu diesem Ort zu begeben, wenn ich meinen Schlüssel wieder haben möchte. Auch hier haben wir es mit logischen Schlüssen oder, wenn man so will, "Argumenten" zu tun. Ich habe eure Diskussion nicht mitverfolgt, nur ist mir grad in diesem Posting etwas ins Auge gesprungen, auf das ich gern reagieren möchte (Sollte es nicht zum Rest der Diskussion passen, bitte ignorieren :-)). Deine beiden Beispiele mit dem Ausweichen und dem vergessenen Schlüssel scheinen mir nicht vergleichbar. Das erste hat - so wie ich die Worte verwende - primär nichts mit Denken zu tun, sondern ist eine Art komplexer Reflex auf der unbewussten Ebene. Dass man sich in einem zweiten Schritt dann bewusst machen kann, was geschehen ist und dass natürlich auch angelernte Reflexe auf Erfahrungen in der Wirklichkeit beruhen und insofern meistens eine "logische Antwort" auf sie sind, ist schon klar. Aber als Denken würde ich das nicht bezeichnen. Das Ausweichen lässt sich sehr gut mit dem Vorhandensein von Spiegelneuronen und mit angelernten Inhalten, die im impliziten (oder nondeklarativen) Gedächtnissystem gespeichert sind, erklären. Die Inhalte aus diesem Gedächtnissystem werden unbewusst abgerufen und Reaktionen, die aus dem impliziten Gedächtnissystem erfolgen, zeichnen sich unter anderem genau dadurch aus, dass sie eben nicht bewusst und durchdacht sind. Und: Was in diesem System abgespeichert ist, muss absolut nicht "logisch" sein so wie du das Wort verwendest! Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung reagieren, wenn sie getriggert werden, aus diesem System heraus und dabei eben sehr häufig alles andere als logisch. Und sie können danach überhaupt nicht erklären, warum sie so gehandelt haben, auch bei noch so viel Überlegen nicht. Das heißt nicht, dass es nicht auch "logisches" Handeln aus diesem System heraus gibt. Und dass es zwischen nondeklarativem und deklarativem (expliziten, narrativem) Gedächtnissystem keine Übergänge und Verbindungen gibt - aber es ist nicht dasselbe. Beispiel: Ein Auto fährt unvermutet aus einer Seitenstraße auf mich zu, ich weiche prompt aus und verhindere einen Unfall. Da hat mein implizites Gedächtnissystem reagiert, lange bevor ich bewusst erfasst habe und nachdenken konnte, was passiert und was zu tun ist. Autofahren und andere automatisierte Bewegungen werden zwar bewusst und explizit gelernt (Gas geben, kuppeln, schalten...), aber mit zunehmender Übung sinkt das Wissen um die Bewegungsabläufe ins implizite Gedächtnissystem ab und ich denke eben nicht mehr bewusst darüber nach, was ich tun muss, damit das Auto fährt. Das ist sehr sinnvoll, weil die Prozesse in der Hirnrinde (wo das explizite System verortet ist), viel langsamer ablaufen als die in untergeordneten Hirnregionen und mich das Auto von der Seite längst abgeschossen hätte, bis ich darüber nachgedacht hätte, was ich denn jetzt tun soll. Ich kann mir aber natürlich nachträglich bewusst machen, was geschehen ist. Das wäre dann wieder denken. Denken tun wir ausschließlich im narrativen System. Und manchmal "rationalisieren" wir in diesem System eigentlich unlogische Handlungen, die aus dem impliziten System heraus gesteuert sind. 1 Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
iskander Geschrieben 10. Januar Melden Share Geschrieben 10. Januar (bearbeitet) Am 9.1.2024 um 21:35 schrieb Marcellinus: Ich weiß nicht, in welcher Welt du lebst. Nehmen wir einen Astronomen. Er beobachtet, daß ein Himmelskörper nicht da ist, wo er der Theorie nach sein sollte. Das bisherige Modell ist also gescheitert. Später findet er oder ein Kollege einen weiteren Himmelskörper, der ihnen bisher entgangen war, weil so weit weg oder so klein oder beides, dessen Masse die Bahnabweichung des ersten verursacht. Problem gelöst! Aber es wurde nicht durch einen Austausch von Argumenten gelöst, und es hat auch niemand gefragt, ob die Beobachtung eines neuen Himmelskörpers ein "gültiger Schluß" sei. Aber dennoch wird hier doch unentwegt geschlossen! Im Fall des Astronomen etwa ginge das grob so - wobei ich hier auch implizite Schlüsse, die wir normalerweise "automatisch" ziehen, abbilde: "Ich schaue durch ein Teleskop und habe eine bestimmten visuellen Wahrnehmung, welche zu einem Himmelskörper passt. Schaue ich später wieder durch das Teleskop, so habe ich die gleiche oder eine andere Wahrnehmung. (Andere Astronomen habe die gleiche Wahrnehmung.). Also handelt es sich vermutlich nicht um einen 'Schmutzeffekt', sondern da ist tatsächlich irgendetwas draußen im Universum. Und weil sich der Himmelskörper so und so verhält, ist die einzig sinnvolle Erklärung für unsere Beobachtung, dass es ein Planet ist; also wird es wohl auch ein Plant sein." In diesem Fall haben wir es hier auch mit sog. "abduktiven Schlüssen" zu tun; das sind Schlüsse auf die beste oder - im günstigsten Fall - einzig überzeugende Erklärung. Man bedenke folgendes: Wenn wir von etwas nicht ganz unmittelbar Kenntnis haben - und von ganz vielen Dingen haben wir keine solche Kenntnis - dann müssen wir unser Wissen über die aus dem herleiten, was wir eben kennen. Und dieses "Herleiten", wenn es vernünftig passiert, ist nichts anderes als logisches Schließen. Habe ich unmittelbare Kenntnis davon, dass sich in der Flasche, die ich gekauft habe, tatsächlich Mineralwasser befindet? Nein! Aber es steht auf der Flasche, und die Flüssigkeit sieht außerdem so aus und schmeckt wie Mineralwasser - also, so schließe ich - ist es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch Mineralwasser. Und nochmals: Dieses Schließen mag intuitiv und unbewusst geschehen. Aber wenn ich auch auf Nachfrage nicht begründen könnte, wieso ich meine, dass die Flasche vor mir Mineralwasser enthält, dann wüsste ich eben auch nicht, dass sie Mineralwasser enthält, sondern hätte (bestenfalls) einen rein instinktiven Glauben. Am 9.1.2024 um 21:35 schrieb Marcellinus: Theoretisch-empirische Wissenschaften suchen nach Modellen, die die Zusammenhängen zwischen einzelnen Beobachtungen zuverlässig beschreiben. Da geht es weder um Induktion noch um Deduktion, sondern um den ständigen Wechsel zwischen empirischer Beobachtung und theoretischer Modellbildung. Was ist denn ein "Modell" anderes als eine Menge von "Sätzen" ("Gedanken"), die in einem bestimmten logischen Verhältnis zueinander stehen, und mit denen eben etwas beschrieben und erklärt werden soll? Und wie könnte eine Prüfung eines Modells an der Beobachtung anders geschehen, als dass man aus dem Modell (und weiteren Annahmen) mithilfe logischer Schlüsse eine bestimmte "Vorhersage" ableitet - eine Vorhersage dazu, welche Beobachtungen zu erwarten sind? Und dass man diese Vorhersage dann mit der tatsächlichen Beobachtung vergleicht? Um alsdann im nächsten Schritt, falls die vorhergesagte Beobachtung ausbleibt, zu schließen, dass das Modell falsch sein muss? Um es relativ detailliert an einem Beispiel zu verdeutlichen, bei dem es darum geht, die Annahme, dass Glas Strom leitet, zu falsifizieren: a) Annahme: Glas leitet Strom. [Zu falsifizierende Annahme] b) Diese Lampe hier leuchtet auf, wenn ich ein leitendes Material zwischen diese beiden Drähte klemme. [Durch viel Erfahrung bestätigte Aussage.] c) Also leuchtet die Lampe nach Annahme auf, sobald ich dieses Stück Glas hier zwischen die Drähte klemme. [Schlussfolgerung aus a) und b)] d) Meine gründliche Beobachtung zeigt aber klar, dass die Lampe nicht aufleuchtet, wenn ich das Glas einklemme. [Aus der Beobachtung gewonnene Aussage] e) Also ist c) falsch. [Folgt unmittelbar mit d) aus dem Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch] e) Da aus "a) und b) zusammen" die Aussage c) folgt, da c) jedoch falsch ist, gilt: Entweder a) oder b) ist falsch, oder sogar beides. [Schluss nach dem Modus Tollens sowie nach De Morganscher Regel] f) Von b) bin ich mir sicher, dass es wahr ist. [Siehe b)] g) Also muss es a) sein, was falsch ist. [Schluss aus e) und f)] Man mag solche Schlüsse auch intuitiv oder halb-bewusst ziehen, und deshalb mag uns vielleicht gar nicht bewusst sein, dass wir da logisch operieren, dass wir also "Schlussfolgerungen" ziehen. Wir tun es aber dennoch; und damit etwa eine Widerlegung valide bzw. begründbar ist, müssen wir auch Logik anwenden, und zwar in korrekter Weise. Und spätestens wenn jemand fehlerhafte Schlüsse zieht, oder wenn jemand (etwa in komplexeren Fällen) nicht versteht, wieso eine Widerlegung gültig ist, ist es notwendig, die logische Gültigkeit genauer zu untersuchen und zu beweisen. Sonst sind wir bei subjektiven Meinungen: "Also Dein Gefühl sagt Dir, dass die Beobachtung die These widerlegt? Mein Gefühl sagt mir aber was ganz anders!" Der gerade erwähnte Modus Tollens ist dabei die Schlussfigur "Aus X folgt Y: Nun ist Y aber falsch; also ist auch X falsch." Für die Falsifikation ist er essentiell: "Nach dem Kritischen Rationalismus entspricht dem Modus (tollendo) tollens eine grundlegende Schlussweise der wissenschaftlichen Forschung, nämlich die Falsifikation einer Annahme unter bestimmten Bedingungen. Dabei sei A eine hypothetisch angenommene Theorie, und B ein Beobachtungssatz, der zwingend aus der Theorie zu folgern wäre. Wissenschaftliche Experimente haben Bedeutung für die Aufgabe, durch Beobachtungen festzustellen, ob die Voraussage eines Beobachtungssatzes erfüllt wird beziehungsweise ob dessen Aussage wahr oder falsch ist. Ist B falsch, dann auch die zugrundeliegende Theorie, die damit als falsifiziert gilt." https://de.wikipedia.org/wiki/Modus_tollens Am 9.1.2024 um 21:35 schrieb Marcellinus: Aber die Praxis sieht anders aus. Ja, unsere Modelle bestehen aus menschengemachten Symbolen, Begriffen, Formeln, Definitionen, was auch immer. Aber die Wirklichkeit, deren Beobachtungen wir zu erklären versuchen, sind keine Symbole, sondern eben wirkliche Objekte. Natürlich bestehen "wirkliche Objekte" nicht aus "aus menschengemachten Symbolen, Begriffen, Formeln, Definitionen" usw. - volle Zustimmung! Aber unser einziger Zugang zu den "wirklichen Objekten" ist eben unser Denken (und Sprechen ) - zusätzlich natürlich zur Sinneserfahrung, die aber isoliert und ohne Denken auch nicht viel hilft. Wir "haben" eben unmittelbar keine realen Objekte, sondern wir haben unmittelbar nur unsere Gedanken, mit welchen wir uns auf diese "wirklichen Objekte" beziehen. Und wir haben die Sprache, in der sich unser Denken ausdrücken können. Das sind sozusagen unsere "Medien", durch die wir uns den "wirklichen Objekten" annähern, soweit das möglich ist. Und wenn wir mit unseren Gedanken den "wirklichen Objekten" (nicht primär unserem eigenen Denken!) gerecht werden wollen, oder eben doch so sehr gerecht, wie uns das eben möglich ist, dann sollten unsere Gedanken eben begründet, vernünftig und logisch geordnet sein. Und Analoges gilt für die Sprache. Zitat Denen [den wirklichen Objekten] kommt man nicht mit Aussagenlogik bei, sondern nur mit theoretisch-empirischer Arbeit. Bei einer theoretisch-empirischen Arbeit ist aber der theoretische Teil so unverzichtbar wie der empirische. Der "theoretische Teil" besteht aber wesentlich im Denken. Wie sollte er ohne Logik sinnvoll funktionieren? Nimm diese Beispiele: 1) "Es gibt mindestens einen schwarzen Schwan. [Und wenn ein Schwan schwarz ist, ist er nicht zugleich weiß.] Also sind nicht alle Schwäne weiß." 2) "Es gibt schwarze Tiere. Schwäne sind Tiere. Also sind manche Schwäne schwarz. Also sind nicht alle Schwäne weiß." Wenn ich 1) als gültigen Schluss akzeptiere, 2) hingegen ablehne, dann ist das kein Selbstzweck, sondern geschieht, weil ich im Hinblick auf die wirklichen Dinge den Irrtum nach Möglichkeit vermeiden und das Richtige nach Möglichkeit ergreifen möchte. Vielleicht sagst Du jetzt: "Aber das mit den Beispielen ist doch trivial!" Ja sicher, logisches Schließen ist für uns selbstverständlich und alltäglich und funktioniert in aller Regel problemlos! Trotzdem ist es da - und wichtig. Und nein, mit Logik allein kommt man den "wirklichen Objekten" sicher nicht bei - aber sie sollte eine Hilfe sein, ihnen "beizukommen". Zitat Da gibt es keine festen Prämissen, aus denen sich deduktiv "gültige" Aussagen ableiten ließen. Die meisten Prämissen, mit denen wir uns etwa auf die uns umgebende "reale Welt" beziehen, sind gewiss nicht in einem strikten Sinne "sicher" - aber ein bestimmtes Maß an Sicherheit braucht man, wenn man überhaupt "Erkenntnisse" gewinnen will, und sei es auch nur derart, dass man etwas falsifiziert. Wenn ich nicht mit einer gewissen Sicherheit davon ausgehen kann, dass meine Lampe immer leuchtet, wenn Strom durch den Stromkreis fließt, und dass das Stück Materie vor mir wirklich ein Stück Glas ist: Wie soll ich dann mit einem gewissen Maß an Sicherheit die Annahme, das Glas Strom leitet, falsifizieren können? Zitat Die Wirklichkeit kümmert sich nicht um deine Ableitungen, und sie besteht auch nicht aus "Sätzen". Du kannst höchsten versuchen, sie mit Sätzen zu beschreiben, aber die müssen dann nicht zu irgendwelchen anderen Sätzen passen, sondern zur beobachtbaren Wirklichkeit. Wenn die Sätze aber alle mit der beobachtbaren Wirklichkeit zu tun haben, dann sollten sie auch zueinander passen. Ansonsten: Natürlich mache ich unmittelbar eine Beobachtung, und diese ist für sich genommen weder ein Gedanke noch ein Satz. Aber die Beobachtung dauert vielleicht nur einen kurzen Moment. Was ich danach habe ist mein Wissen um die Beobachtung, und dieses Wissen kann ich sinnvollerweise auch in sprachlicher Form ausdrücken. Und wenn nicht ich selbst die entscheidende Beobachtung mache, sondern andere, dann habe ich von vornherein nur deren Zeugnis - das heißt deren "Aussagen" oder "Sätze". Und wenn ich dann sehen möchte, ob solch eine von anderen (oder von mir selbst in der Vergangenheit) gemachte Beobachtung mit meiner Theorie kollidiert oder nicht, dann vergleiche ich spätestens an diesem Punkt nicht unmittelbar eine Beobachtung mit einer Theorie, sondern ich vergleiche die Beobachtung durch das Medium meiner Gedanken oder meiner "Sätze" mit meiner Theorie. Oder? Am 9.1.2024 um 21:35 schrieb Marcellinus: Deine Philosophie spielt in einem akademischen Elfenbeinturm, in dem die Philosophen meinen die Regeln vorgeben zu können. Nur mit den theoretisch-empirischen Wissenschaften hat das nichts zu tun. Es geht nicht darum, ob eine Idee in ein menschengemachtes Symbolsystem paßt, sondern ob es in der Wirklichkeit funktioniert, ob also ein Satellit auf einem Himmelskörper heil ankommt oder nicht. Da baust Du Dir, was die Philosophie angeht, einen Strohmann auf, wie ich schon anderswo ausgeführt hatte. Natürlich ist eine Theorie nicht Selbstzweck, sondern sie soll die Wirklichkeit beschreiben, wenigstens aspekthaft und annäherungsweise, oder sie soll wenigstens Vorhersagen erlauben und also zumindest einen pragmatischen Wert haben. Und natürlich muss die Theorie sich an der Beobachtung messen lassen und ggf. korrigierbar sein. Aber genau damit das möglich ist, sollte das wissenschaftliche Arbeiten eben bestimmten Standards der Rationalität und Logik gerecht werden. Und dieses Maß an Rationalität und Logik muss man den Physikern und Raketeningenieuren auch nicht (etwa von Seiten der Philosophen etwa) beibringen - das haben die schon selbst. Dennoch ist es auch nichts Schlechtes, wenn man auf die Rationalität und Logik, die gewöhnlich immer in Anspruch genommen, jedoch selten explizit erörtert wird, einmal bewusst reflektiert - oder? Am 9.1.2024 um 21:35 schrieb Marcellinus: Das letzte Wort hat immer das Experiment, nicht der auf "Gültigkeit" prüfende Philosoph! Sicher. Doch nur wenn man das Ergebnis des Experiments auch versteht und richtig einordnet, nutzt es etwas. Dazu brauch man keine Philosophen, aber man braucht ein Denken, das Dinge und Zusammenhänge begreift, das Einsicht besitzt, das Sinnvolles und Unsinniges unterscheiden kann und das zudem logisch vorgeht. Zitat Und wo es solch ein Experiment nicht gibt, da bleiben nur Vermutungen, ganz egal, wie "schlüssig" die Argumentation war, die dahin geführt hat. Deshalb schreibe historische Wissenschaften, egal ob Archäologie oder Paläontologie, ihre Bücher notgedrungen alle paar Jahre um, wenn mal wieder jemand irgendwo etwas ausgegraben hat, mit dem keiner rechnen konnte. Gut, manches bleibt wohl schon. Man mag einen spektakulären Fund (etwas) anders datieren oder interpretieren, und man mag manches ergänzen. Aber in vielen Fällen bleibt doch auch etwas Wesentliches bestehen und wird vermutlich auch in Zukunft besehen bleiben. Beispielsweise ist und bleibt es doch zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr, dass es Howard Carter das Grab des Pharao Tutanchamun, welcher im 14. Jh. v. Chr. regierte, entdeckt hat. Am 9.1.2024 um 21:35 schrieb Marcellinus: Was die Philosophie dagegen macht, wenn sie meint, die "Gültigkeit" von Aussagen aus einer logischen Abfolge von "Sätzen" ableiten zu können, ist schlicht das Verwechseln der Wirklichkeit mit ihrem Bild davon. Das ist ein Missverständnis. Es geht wie gesagt darum, mit den "Aussagen" der "Wirklichkeit" gerecht zu werden. Logik (oder Sprache) ist nur ein Mittel zum Zweck, wenn auch ein unverzichtbares. Niemand würde zudem behaupten, dass man allein mithilfe der (deduktiven) Logik Aussagen über die wahre Welt herleiten kann. Bei der (deduktiven) Logik geht es nur darum - wenn ich das so salopp ausdrücken darf - Informationen, die wir bereits haben, in korrekter Weise zu verarbeiten. Wenn ich weiß, dass mein Nachbar Vater eines Sohnes ist, dann weiß ich auch, dass er Vater eines Kindes (im altersneutralen Sinne) ist. Wenn ich hingegen nur weiß, dass er Vater eines Kindes ist, dann weiß ich noch nicht, ob er auch einen Sohn hat. Die (deduktive) Logik sagt nicht: "Dein Nachbar hat ein Kind" oder "Dein Nachbar hat einen Sohn". Sie sagt nur: "Wenn Dein Nachbar einen Sohn hat, dann hat er auch ein Kind (während die Umkehrung nicht gilt)." (Und genau genommen müssen da auch noch Informationen hinzutreten.) Wenn ich aber wissen möchte, ob mein Nachbar tatsächlich ein Kind hat, und ob das Kind ggf. ein Sohn ist, muss ich hingehen und ihn fragen oder den Sachverhalt auf eine andere empirische Weise erforschen. (Antwortet er mir allerdings, dass er einen Sohn hat, kann ich mir immerhin die Frage sparen, ob er ein Kind hat. ) Zitat Während wir die Zusammenhänge zwischen beobachtbaren Objekten oftmals nur grob kennen, und deshalb immer wieder Ergebnisse entstehen können, die wir nicht erwartet haben, ist es auch Unsinn, zu glauben, man könne die empirische Beobachtung durch logische Operationen zwischen "Sätzen" ersetzen. Absolute Zustimmung! Für die empirische Forschung braucht man allerdings beides: Beobachtung und vernünftiges (und das heißt auch: logisches) Denken. Du scheinst die Position zu kritisieren, dass man auf die Beobachtung in diesem Zusammenhang verzichten könne und sie durch "Denken" ersetzen könne. Aber das ist ganz gewiss nicht meine Position! Zitat Das ist eine Papierfantasie, die innerhalb eines philosophischen Modells funktionieren mag, aber nicht in der Wirklichkeit. Das wäre dann auch eine sehr schlechte Philosophie, die allerdings auch kaum ein Philosoph vertreten dürfte. Eine andere Frage lautet natürlich, ob schlechterdings alle Fragen, zu denen man etwas Sinnvolles sagen kann, empirische Fragen sind - also Fragen, die man nur mithilfe der empirischen Prüfung beantworten kann. Nun, ein Großteil der Diskussion, die wir beide führen, dreht sich mit Sicherheit um Fragen, die man weder durch eine einfache Beobachtung noch durch ein Experiment entscheiden kann. So beispielsweise die Frage, ob man für die empirische Forschung Logik benötigt. Sicher, wir könnten einen Wissenschaftler nach seiner Meinung fragen. Aber wenn er sagt, dass er Logik braucht, könntest Du antworten, dass das eine Illusion sei, und wenn er sagt, dass er keine Logik braucht, würde ich antworten, dass das das logische Denken so alltäglich und vertraut ist, und oft so intuitiv und automatisiert abläuft, dass wir es gar nicht bemerken. Ob man, wenn Wissenschaft Geltung beanspruchen kann (und sei es nur beim falsifzieren!), nach logischen Regeln verfahren muss, ist eine Frage, die wir sinnvollerweise nur dann beantworten können, wenn wir uns die relevanten Gegebenheiten vergegenwärtigen und sie analysieren. Das tun wir vielleicht an Beispielen - aber ist keine "Beobachtung" und keine "experimentelle Prüfung". Es geht vielmehr darum, die entscheidenden Zusammenhänge - ggf. am Beispiel - zu verstehen. bearbeitet 11. Januar von Frank Einen sinnentstellenden schwarzen Schwan - auf PM-Wunsch des Autors - weiss gemacht Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
iskander Geschrieben 10. Januar Melden Share Geschrieben 10. Januar (bearbeitet) Am 10.1.2024 um 00:53 schrieb Ennasus: Deine beiden Beispiele mit dem Ausweichen und dem vergessenen Schlüssel scheinen mir nicht vergleichbar. Das erste hat - so wie ich die Worte verwende - primär nichts mit Denken zu tun, sondern ist eine Art komplexer Reflex auf der unbewussten Ebene. Dass man sich in einem zweiten Schritt dann bewusst machen kann, was geschehen ist und dass natürlich auch angelernte Reflexe auf Erfahrungen in der Wirklichkeit beruhen und insofern meistens eine "logische Antwort" auf sie sind, ist schon klar. Aber als Denken würde ich das nicht bezeichnen. Deshalb hatte ich ja auch geschrieben: "Wenn ich jedoch bewusst zur Seite gehe - also nicht rein instinktiv [...] Wobei das Beispiel wohl nicht optimal ist. Ich dachte da an Situationen, dass die andere Person nicht zur Seite geht und man sich mit einer gewissen Verzweiflung überlegt, was man da nun tun soll. (Ich erinnere mich noch an einen Fall, wo zwei Leute vor mir gelaufen sind (also in die gleiche Richtung wie ich), und zwar so, dass man nicht links, nicht rechts und nicht mittig an ihnen vorbeikam. ) Zitat Das Ausweichen lässt sich sehr gut mit dem Vorhandensein von Spiegelneuronen und mit angelernten Inhalten, die im impliziten (oder nondeklarativen) Gedächtnissystem gespeichert sind, erklären. Die Inhalte aus diesem Gedächtnissystem werden unbewusst abgerufen und Reaktionen, die aus dem impliziten Gedächtnissystem erfolgen, zeichnen sich unter anderem genau dadurch aus, dass sie eben nicht bewusst und durchdacht sind. Und: Was in diesem System abgespeichert ist, muss absolut nicht "logisch" sein so wie du das Wort verwendest! Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung reagieren, wenn sie getriggert werden, aus diesem System heraus und dabei eben sehr häufig alles andere als logisch. Und sie können danach überhaupt nicht erklären, warum sie so gehandelt haben, auch bei noch so viel Überlegen nicht. Sicher. Wir reagieren oft mehr oder weniger instinktiv oder "halbbewusst". Trotzdem veranschaulicht das Beispiel mit den an PTBS leidenden Leuten ja gerade den Unterschied zwischen "logisch" und "unlogisch" - oder vielleicht allgemeiner "rational" und "irrational". Das Verhalten dieser Menschen fällt uns auf, weil es "unlogisch" ist. Zitat Beispiel: Ein Auto fährt unvermutet aus einer Seitenstraße auf mich zu, ich weiche prompt aus und verhindere einen Unfall. Da hat mein implizites Gedächtnissystem reagiert, lange bevor ich bewusst erfasst habe und nachdenken konnte, was passiert und was zu tun ist. Sicherlich. Ein Großteil des menschlichen Verhaltens läuft ohnehin mehr oder weniger automatisiert ab: Es stimmt zwar mit unseren übergeordneten Absichten ein, aber wir vollziehen keineswegs bewusst jeden Schritt. Vielleicht ein etwas "treffenderes" Beispiel: Die Frau ruft den Mann an, dass er ihr auf dem Heimweg von der Arbeit noch Kaffee mitbringen soll. also hält der Mann an einem Geschäft und besorgt den Kaffee. Der Mann denkt jetzt sicher nicht in sprachlichen Form folgendes: "Meine Frau will, dass ich Kaffee besorge. Ich möchte diesem Wunsch nachkommen. Dabei will ich aber unnötige Wege vermeiden. Also gehe ich am besten in ein Geschäft, welches mir gut am Wege liegt. Der XY ist das Geschäft, welches den kleinsten Umweg bedeutet. Es gibt auch keine besonderen Gründe, die dem Besuch des Geschäfts XY entgegenstehen. Also gehe ich am besten in dieses Geschäft, um den Kaffee zu holen." Wie gesagt: So etwas denkt man normalerweise nicht verbal. Trotzdem dürften aber genau solche Überlegungen ablaufen. Womöglich sieht man die logische Struktur aber erst, wenn man sich die Überlegungen bewusst macht und sich klarmacht, dass diese Überlegungen folgerichtig sind. bearbeitet 10. Januar von iskander Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
iskander Geschrieben 11. Januar Melden Share Geschrieben 11. Januar vor 17 Stunden schrieb iskander: Nimm diese Beispiele: 1) "Es gibt mindestens einen schwarzen Schwan. [Und wenn ein Schwan schwarz ist, ist er nicht zugleich weiß.] Also sind nicht alle Schwäne schwarz." Sorry. Sollte am Ende natürlich heißen. Also sind nicht alle Schwäne weiß. Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
iskander Geschrieben 11. Januar Melden Share Geschrieben 11. Januar (bearbeitet) Inzwischen war @Frank so freundlich, den Fehler zu korrigieren; dafür lieben Dank! Das Beispiel sollte ja verdeutlichen, dass es eben wichtig ist zu unterscheiden, was beispielsweise eine "echte" Widerlegung ausmacht und was nicht. (Natürlich wird keiner in solch offenkundigen Fällen einen derartigen Fehler machen wie im 2. Schluss; aber mir ging es darum zu zeigen, dass es wichtig ist, logisch korrekt vorzugehen, um der Wirklichkeit gerecht zu werden - und nicht etwa darum, dass die Logik, die wir im Alltag brauchen, eine diffizile Sache sei. Das ist sie zum Glück in den seltensten Fällen.) Ansonsten sei es mir erlaubt, noch etwas Ergänzendes zum Thema zu sagen, nämlich zu dem, was wir unmittelbar wissen und dem, was wir nicht unmittelbar wissen, sondern aus dem unmittelbar Gewussten ableiten müssen. Eigentlich ist unser "unmittelbares" Wissen doch recht limitiert: a) Wir haben sicher einen direkten Zugang zu unsere aktuellen Erleben. Wenn ich eine Empfindung der Wärme erlebe, dann erlebe ich eben diese Empfindung. b) Es gibt Einsichten, die wir unmittelbar haben, wie etwa: "Das Ganze ist größer als der Teil." [Der Spezialfall unendlicher Mengen mag hier außen vor bleiben.] Oder: "Neben Weiß und Nicht-Weiß gibt es nichts Drittes [entweder ist etwas weiß oder es ist nicht weiß]; aber neben Weiß und Schwarz gibt es etwas Drittes [etwa das Rote oder das Farblose]." Und wir haben natürlich auch "Intuitionen", derer wir uns nicht ganz sicher sind, auch wenn wir sie für mehr oder weniger plausibel halten. Das mag etwa der Fall sein, wenn wir Argumente gegeneinander abwägen und es plausibel finden, dass die Argumente für die eine Auffassung schwerer wiegen als für die andere, obwohl keines der Argumente zwingend ist. Sobald es aber um Dinge geht, die wir nicht unmittelbar in unserem Bewusstsein vorfinden, ist unser Wissen "abgeleitet". Schon wenn es etwa um die Erinnerung geht, dass ich gestern ein Gefühl der Wärme erlebt habe, habe ich keinen direkten Zugang mehr zu meinem gestrigen Erleben - denn dieses ist ja nicht mehr unmittelbar in meinem Bewusstsein präsent. Bereits hier komme ich, wenn ich mit Grund den Anspruch auf Wahrheit erheben will, nur mit einem (informellen, intuitiven) Schluss dieser Art weiter: "1) Ich meine, mich deutlich zu erinnern. 2) Normalerweise ist meine Erinnerung zuverlässig. 3) Also wird es sehr wahrscheinlich wohl auch so gewesen sein." (Und vollkommene Sicherheit bietet dieser Schluss auch nicht; ich kann nicht zu 100% ausschließen, dass mein Gedächtnis mich doch unerwartet trügt.) Erst recht gilt für für die ganze reale Welt "um uns herum", dass wir keinen unmittelbaren Zugang zu ihr haben. Was wir über sie wissen, schließen wir (bewusst oder unbewusst) aus dem, was Sinne und Verstand uns sagen. Um mir Arbeit zu ersparen, darf ich hier beispielhaft J. de Vries zitieren: "Gehen wir einmal von einem Beispiel aus: Wir sagen etwa: Durch dieses Fenster dringt das Tageslicht in das Zimmer hinein und dieses Tageslicht läßt das Zimmer hell werden, es erhellt das Zimmer; am Abend wird es dann die Lampe sein, die das Zimmer erhellt. Was heißt das: Die Lampe erhellt das Zimmer? Es heißt: Die Lampe macht, bewirkt, daß es im Zimmer hell ist. Der Lampe wird also ein »Wirken« zugeschrieben. Kann man dieses Wirken sehen? Man wird zugeben müssen, daß dies nicht möglich ist. Das einfache Beispiel zeigt, daß wir in unserer Aussage mehr behaupten als das, was sich uns in der Wahrnehmung zeigt. Die Wahrnehmung kann im besten Falle zeigen: Das Licht wird angezündet, und dann wird es hell, das heißt, es besteht ein zeitliches Nacheinander; das Wirken selbst aber nehmen wir nicht wahr. In unserem Denken fügen wir also zu dem, was wir wahrnehmen, etwas hinzu, was durch die Wahrnehmung, jedenfalls durch die Wahrnehmung allein, nicht »gedeckt« ist. [...]" (Wir schließen also in diesem Fall von der zeitlichen Abfolge auf einen Ursache-Wirkungszusammenhang.) Es wird dann sinngemäß ausgeführt, dass uns in der Wahrnehmung allein noch kein "Tisch" im Sinne eines Dinges mit Bestimmungen gegeben ist. "Auch hier sehen wir, daß sogar in so einfachen Sätzen [wie "der Tisch ist rechteckig"] mehr gesagt wird, als wir wahrnehmen. Was wir wahrnehmen, ist die rechteckige Gestalt, die Farbe, die Härte usw., und das alles an derselben Raumstelle. So müßte ich mich also ausdrücken, wenn ich nicht mehr sagen wollte, als das, was ich wahrnehme. In Wirklichkeit sagen wir aber, daß da ein Ding mit Eigenschaften ist; und das können wir nicht wahrnehmen. Noch ein drittes Beispiel, bei dem die Sache am kritischsten wird: Es könnte jemand sagen: Gut, ich nenne das da nicht mehr »Tisch«, oder ich verstehe unter »Tisch« nicht mehr ein Ding mit Eigenschaften, sondern ich will nichts anderes sagen als nur dies: An dieser Raumstelle ist zugleich eine rechteckige Gestalt, braune Farbe, Härte usw. Kann man nicht wenigstens das mit den Sinnen wahrnehmen? Aber auch hier müssen wir sagen: Nein, auch hier sagen wir mehr als wir wahrnehmen. Das ist vielleicht nicht ohne weiteres einsichtig. Aber wenn ich sage: Diese Gestalt, diese Farbe ist an dieser Raumstelle, so schreibe ich dieser Farbe, dieser Gestalt Dasein zu, »Sein an sich«. So versteht jedermann diesen Satz. Er will sagen: Dieses Rechteckige ist da, ob ich es nun sehe oder nicht, d. h., unabhängig von meinem Sehen, »an sich«. Gerade das aber kann uns die Sinneswahrnehmung nicht zeigen. Der Sinn kann mir nur zeigen: Es erscheint mir jetzt diese Gestalt, diese Gestalt ist als gesehene da; ihre Unabhängigkeit von den Sinnen kann der Sinn selber nicht feststellen. Dasselbe kann auch eine andere Überlegung zeigen. Genau denselben Eindruck, den ich jetzt von diesem Tisch habe, könnte ich auch im Traum haben. Und da ist das Gesehene wirklich nicht da, es besteht »an sich« nicht. Daraus geht hervor, daß alle Aussagen, die aufgrund der Sinneseindrücke das An-sich-Sein der gesehenen Dinge behaupten, sich nicht auf die Sinneswahrnehmung allein stützen; es kommt etwas anderes hinzu." Der konsequente Positivismus - der ja allein die Sinneserfahrung gelten lassen will - lehnt daher das Reden von "Dingen", Realität", "Kausalität" usw. ab (bzw. gibt diesen Begriffen radikal andere Bedeutungen). Tatsächlich können wir durch sinnliche Wahrnehmung die Überzeugung von einer realen Außenwelt, von Kausalität, von Induktion usw. weder beweisen noch widerlegen. Aber abgesehen von anderen Schwierigkeiten des Positivismus reden wir im Effekt dann nur noch über unser eigenes Bewusstsein. Den Zugang zur Welt verlieren wir so - und auch den zu anderen Menschen, denn diesen begegnen wir ja nur in der realen physischen Welt. Da wir jedoch in der Tat keinen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit "um uns herum" haben, so bleibt uns nichts anderes, als aus a) dem, was wir unmittelbar erleben und b) dem, was wir mehr oder weniger gut einzusehen meinen, Erkenntnisse "abzuleiten". Verbalisiert würde das etwa so aussehen: "1) Ich habe (in meinem bewussten Erleben) einen bestimmten Eindruck, welchen ich mit dem Begriff 'Baum' verbinden würde. 2) Die einzige überzeugende Erklärung für diesen Eindruck lautet, dass es eine reale Welt mit einem entsprechenden realen Baum gibt, der mittelbar diesen Eindruck in mir verursacht. 3) Also ist 'da draußen' sehr wahrscheinlich tatsächlich ein realer Baum." Eine völlige Sicherheit gibt es aber auch hier nicht, wie die Beispiele der Halluzination oder des eindringlichen Traumes zeigen. Die Prämisse 2) ist zudem womöglich auch erst mal keine Selbstverständlichkeit. Aber mir geht es hier einfach darum zu zeigen, wie sehr wir aufs Schließen angewiesen sind. Dabei gilt mein Augenmerk auch, aber nicht primär der Frage, wie die Leute tatsächlich vorgehen: ob sie also bewusst, unbewusst, halb-bewusst oder sonst irgendwie "implizit" vergleichbare Schlüsse ziehen; oder ob sie gar nichts schließen, sondern gewissermaßen "rein instinktiv" unterwegs sind. Solche Fragen sind zwar von Interesse - es sind empirische Fragen, die in Psychologie gehören dürften. Daneben sind aber auch Geltungsfragen, und diese stehen für mich hier im Vordergrund. Denn ich will ja vor allem auch wissen, wie wir unsere Grundüberzeugungen vernünftig und mit Anspruch auf Geltung rechtfertigen lassen. Es geht schließlich auch darum, warum unsere grundlegendsten Überzeugungen über die Welt (doch sicherlich) eben mehr sind als Vorurteil und reine Meinung, und warum wir guten Grund haben, sie für zutreffend zu halten. bearbeitet 11. Januar von iskander Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Marcellinus Geschrieben 11. Januar Melden Share Geschrieben 11. Januar vor einer Stunde schrieb iskander: Der konsequente Positivismus - der ja allein die Sinneserfahrung gelten lassen will - lehnt daher das Reden von "Dingen", Realität", "Kausalität" usw. ab (bzw. gibt diesen Begriffen radikal andere Bedeutungen). Auguste Comte gilt nicht nur als der Vater der Soziologie, sondern auch als Begründer des philosophischen Positivismus. Unter einem Positivisten versteht man gemeinhin einen Vertreter der wissenschaftstheoretischen Vorstellung, man könne bei wissenschaftlichen Arbeiten, oder bei Erkenntnisprozessen überhaupt von „reinen“ Beobachtungen ausgehen, auf deren Grundlage man dann nachträglich Theorien konstruiere. In diesem Sinne war Comte sicherlich kein Positivist. „Denn wenn auch auf der einen Seite jede positive Theorie notwendigerweise auf Beobachtungen fundiert sein muß, so ist es auf der anderen Seite nicht weniger richtig, daß unser Verstand eine Theorie der einen oder anderen Art braucht, um zu beobachten. Wenn man bei der Betrachtung von Erscheinungen diese nicht unmittelbar in Beziehung zu gewissen Prinzipien setzen würde, wäre es nicht nur unmöglich für uns, diese isolierten Beobachtungen miteinander in Verbindung zu bringen ... wir würden sogar völlig unfähig sein, uns an die Tatsachen zu erinnern; man würde sie zum größten Teil nicht wahrnehmen.“ (Auguste Comte, Cours de Philosophie Positive, Band 1, Paris 1907) Er war also nicht der Ansicht, daß man in den Wissenschaften rein induktiv vorgehen könne. Ebensowenig teilte der die Ansicht der Deduktivsten, man können reine Theorien oder Hypothesen aufstellen, die man erst nachträglich mit beobachtbaren Tatsachen in Verbindung bringt. „Es war eines der Leitmotive der Comteschen Wissenschaftstheorie, daß die wissenschaftliche Arbeit auf der unablösbaren Verbindung von Zusammenfassung und Einzelbeobachtung, von Theoriebildung und Empirie beruhte. Seine oft wiederholte Betonung des positiven, also wissenschaftlichen Charakters aller Forschungsarbeit erklärt sich daraus, daß er, der als Wissenschaftler geschulte Philosoph, sich mit aller Entschiedenheit gegen die Philosophie des 18. Jahrhunderts wandte, deren Vertreter es sich erlauben Behauptungen aufzustellen, ohne sie durch systematischen Bezug auf Einzelbeobachtungen zu erhärten.“ (NE, Bd. 5, S. 43) 1 Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
iskander Geschrieben 12. Januar Melden Share Geschrieben 12. Januar (bearbeitet) @Marcellinus vor 21 Stunden schrieb Marcellinus: [Auguste Comte:]Denn wenn auch auf der einen Seite jede positive Theorie notwendigerweise auf Beobachtungen fundiert sein muß, so ist es auf der anderen Seite nicht weniger richtig, daß unser Verstand eine Theorie der einen oder anderen Art braucht, um zu beobachten. Wenn man bei der Betrachtung von Erscheinungen diese nicht unmittelbar in Beziehung zu gewissen Prinzipien setzen würde, wäre es nicht nur unmöglich für uns, diese isolierten Beobachtungen miteinander in Verbindung zu bringen ... wir würden sogar völlig unfähig sein, uns an die Tatsachen zu erinnern; man würde sie zum größten Teil nicht wahrnehmen.“ (Auguste Comte, Cours de Philosophie Positive, Band 1, Paris 1907) Und da hat Comte im Grundsatz im Grundsatz natürlich auch recht. Ich bin mir offen gesagt nicht sicher, inwieweit Comte - dessen grundsätzliche Verdienste ich durchaus nicht schmälern will - darüber hinaus tatsächlich als typischer Vertreter des "Positivismus", so wie man diesen weithin versteht, zu gelten hat (auch wenn er ja, wie Du sagst, als der eigentliche Vater dieser Richtung in moderner Zeit gilt). Es scheint mir jedenfalls so, dass Comte durchaus eine Außenwelt - und zwar nicht eine gedachte, sondern eine reale - annimmt. Allerdings gibt es auch Vertreter des Positivismus, die entweder eine Außenwelt ablehnen (wie etwa Ernst Mach) oder sogar schon die ganze Frage für "sinnlos" halten, weil man sie nicht empirisch klären kann (so jedenfalls manche Vertreter des sog. "logischen Positivismus"). Eine andere, mehr sachliche als historische Frage, lautet: Was muss man wissen, um die Existenz der "Außenwelt" als begründet anerkennen zu können - welche Erkenntnisquellen braucht man dazu? Und besitzt ein "strenger" Positivist diese? Und eine zweite Frage lautet: Welche Erkenntnisquellen lässt der Positivismus (so wie man ihn gemeinhin versteht) gelten? Was man unter Positivismus im "üblichen" Sinne versteht, dürfte die Wikipedia nach meiner Einschätzung durchaus im Prinzip treffend wiedergeben: "Positivism is a philosophical school that holds that all genuine knowledge is either true by definition or positive—meaning a posteriori facts derived by reason and logic from sensory experience.[1][2] Other ways of knowing, such as intuition, introspection, or religious faith, are rejected or considered meaningless." Wenn jemand diese Position vertritt, dann stellt sich die Frage, wie man zur Außenwelt kommt - denn die Sinneserfahrung, soweit sie uns als Subjekten "positiv" gegeben ist, beinhaltet noch nicht, dass sie von einer realen "Außenwelt" herrührt. Ob es eine Außenwelt gibt (welche unsere sinnliche Erfahrung verantwortlich zeichnet) lässt sich also nicht zirkelfrei durch Sinneserfahrung überprüfen. (Dass jemand neben der Beobachtung eine Theorie hat, in welche er Beobachtungen sozusagen "einbettet", und mit deren Hilfe er sie unter Begriff bringt und interpretiert, dürfte für sich genommen zur Rechtfertigung einer realen Außenwelt allein noch nicht ausreichen; denn solch eine Theorie könnte auch ein reines Denk-Schema sein, das pragmatisch nützlich sein soll, aber aber nichts über eine "reale Welt jenseits unserer Beobachtungen" behaupten will - und vor allem: auch nichts begründet behaupten kann.) Hier möchte ich Max Planck zitieren, weil er die Probleme m.E. insgesamt recht gut darlegt. (Da die Schrift von 1931 stammt und Planck über 70 Jahre tot ist, dürfte eine ausführlichere Zitation zulässig sein.) Planck führt ebenfalls wie de Vries das Beispiel des Tisches an, um dann fortzufahren: "Daher ist im Lichte des Positivismus der Tisch nichts anderes als ein Komplex derjenigen Sinnesempfindungen, die wir mit dem Worte Tisch verbinden. Nehmen wir alle Sinnesempfindungen fort, so bleibt schlechterdings nichts übrig. Die Frage, was ein Tisch ,,in Wirklichkeit" ist, hat gar keinen Sinn. Und so geht es mit allen physikalischen Begriffen überhaupt. Die ganze uns umgebende Welt ist nichts anderes als der Inbegriff der Erlebnisse, die wir von ihr haben. Ohne dieselben hat die Umwelt keine Bedeutung. Wenn eine Frage, die sich auf die Umwelt bezieht, sich nicht in irgendeiner Weise auf ein Erlebnis, eine Beobachtung zurückführen läßt, so ist sie sinnlos und wird nicht zugelassen. Daher ist für irgendeine Art Metaphysik im Positivismus kein Platz. [...] Es kann keine Frage sein, daß für die Gegenstände der belebten Natur die nämlichen Überlegungen zutreffen. Ein Baum z. B. ist im Lichte des Positivismus nichts anderes als ein Komplex von Sinnesempfindungen: wir können ihn wachsen sehen, seine Blätter rauschen hören, den Duft seiner Blüten einatmen. Aber wenn wir von allen diesen Empfindungen absehen, bleibt schlechterdings nichts übrig, was wir als den „Baum an sich" bezeichnen können. [...]" Planck diskutiert dann verschiedene (weitere) Schwierigkeiten eines Positivismus, beispielsweise die Abhängigkeit des Einzelnen von den Ergebnissen anderer Wissenschaftler; "Nun liegt es auf der Hand, daß man auf eigene sinnliche Erlebnisse, auch wenn man ein noch so vielseitiger Mensch ist, keine volle Wissenschaft aufbauen kann, und so steht man vor der Alternative, entweder auf eine umfassende Wissenschaft überhaupt zu verzichten, wozu sich auch der extremste Positivist wohl kaum verstehen würde, oder aber ein Kompromiß einzugehen und auch fremde Erlebnisse mit zur Begründung der Wissenschaft heranzuziehen, obgleich damit streng genommen der ursprüngliche Standpunkt, nur primär Gegebenes zuzulassen, aufgegeben wird. Denn die fremden Erlebnisse sind nur sekundär, durch die Berichte über sie, gegeben. Hier schiebt sich also ein neuer Faktor: die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit der Berichte, der mündlichen und der schriftlichen, in die Definition der Wissenschaft ein, und damit ist die eigentliche Grundlage des Positivismus, die unmittelbare Gegebenheit des wissenschaftlichen Materials, bereits an einer Stelle logisch durchbrochen." Er kommt letztlich zu folgendem Ergebnis: "Die Grundlage, die der Positivismus der Physik gibt, ist zwar fest fundiert, aber sie ist zu schmal, sie muß durch einen Zusatz erweitert werden, dessen Bedeutung darin besteht, daß die Wissenschaft nach Möglichkeit befreit wird von den Zufälligkeiten, die durch die Bezugnahme auf einzelne menschliche Individuen in sie hineingebracht werden. Und das geschieht durch einen prinzipiellen, nicht durch die formale Logik, sondern durch die gesunde Vernunft gebotenen Schritt ins Metaphysische, nämlich durch die Hypothese, daß unsere Erlebnisse nicht selber die physikalische Welt ausmachen, daß sie vielmehr uns nur Kunde geben von einer anderen Welt, die hinter ihnen steht und die unabhängig von uns ist, mit anderen Worten, daß eine reale Außenwelt existiert." Dabei ist Planck allerdings nicht naiv: "Die beiden Sätze: „Es gibt eine reale, von uns unabhängige Außenwelt", und: „Die reale Außenwelt ist nicht unmittelbar erkennbar", bilden zusammen den Angelpunkt der ganzen physikalischen Wissenschaft. Sie stehen aber in einem gewissen Gegensatz zueinander und legen damit zugleich das irrationale Element bloß, welches der Physik ebenso wie jeder andern Wissenschaft anhaftet, und welches sich dahin auswirkt, daß eine Wissenschaft ihre Aufgabe niemals vollständig zu lösen imstande ist. Das müssen wir als eine Tatsache hinnehmen [...]. Die Arbeit der Wissenschaft stellt sich uns also dar ein unablässiges Ringen nach einem Ziel, welches niemals erreicht werden wird und grundsätzlich niemals erreicht werden kann. [...] Aber heißt es nicht alle Wissenschaft für sinnlos erklären, wenn man behauptet, daß sie nur einem luftigen Phantom nachjagt? — Mitnichten. Denn gerade aus diesem fortwährenden Ringen erwachsen in unaufhörlich anschwellender Menge die wertvollen Früchte, welche uns den handgreiflichen, allerdings auch den einzigen Beweis dafür liefern, daß wir auf dem rechten Wege sind, und daß wir dem in unerreichbarer Ferne winkenden Ziel doch andauernd etwas näherrücken. Nicht der Besitz der Wahrheit, sondern das erfolgreiche Suchen nach ihr befruchtet und beglückt den Forscher. [...] Dem Physiker ist das ideale Ziel die Erkenntnis der realen Außenwelt; aber seine einzigen Forschungsmittel, seine Messungen, sagen ihm niemals etwas direkt über die reale Welt, sondern sind ihm immer nur eine gewisse mehr oder weniger unsichere Botschaft, oder, wie es Helmholtz einmal ausgedrückt hat, ein Zeichen, das die reale Welt ihm übermittelt, und aus dem er dann Schlüsse zu ziehen sucht, ähnlich einem Sprachforscher, welcher eine Urkunde zu enträtseln hat, die aus ihm gänzlich unbekannten Kultur stammt. Was er dabei von vornherein voraussetzt und voraussetzen muß, wenn seiner Arbeit überhaupt ein Erfolg möglich sein soll, ist, daß der Urkunde ein gewisser vernünftiger Sinn innewohnt. So muß auch der Physiker voraussetzen, daß die reale Welt gewissen uns begreiflichen Gesetzen gehorcht, wenn er auch keine Aussicht hat, diese Gesetze vollständig zu erfassen oder auch nur ihre Natur von vornherein mit voller Sicherheit festzustellen." Planck äußert auch andere interessante wissenschaftstheoretische Überlegungen (wobei ich nicht unbedingt jeden Satz genau so unterschreiben und auch nicht unbedingt jeder einzelnen Kritik am Positivismus ohne genauere Prüfung zustimmen würde). Womit er jedoch nach meiner Überzeugung klarerweise recht hat, ist, dass es eine "sinnlich Gegebene" hinausgehende Annahme darstellt, dass es eine reale Außenwelt gibt. Ebenso stimme ich ihm zu, dass sich eine Außenwelt mit keinem logischen Schluss mit "völliger Sicherheit" beweisen lässt - weil wir eben an dieser Stelle einfach keine geeigneten und entsprechend sicheren Prämissen haben. Und gleichfalls bin auch ich der Meinung, dass es dennoch völlig vernünftig ist, dass wir eine solche Außenwelt gelten lassen. In vielen Fällen können wir zwar nicht einsehen, dass eine Überzeugung absolut sicher ist, aber doch, dass sie so sehr vernünftig und ihre Verneinung so sehr unvernünftig ist, dass man sie akzeptieren darf und sollte. Gleichzeitig könnte man nach meinem Dafürhalten hier schon noch etwas mehr dazu sagen, warum es vernünftig ist, eine Außenwelt zu akzeptieren. bearbeitet 12. Januar von iskander Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Marcellinus Geschrieben 12. Januar Melden Share Geschrieben 12. Januar vor 52 Minuten schrieb iskander: Hier möchte ich Max Planck zitieren, weil er die Probleme m.E. insgesamt recht gut darlegt. (Da die Schrift von 1931 stammt und Planck über 70 Jahre tot ist, dürfte eine ausführlichere Zitation zulässig sein.) Das war nur das Vorgeplänkel in etwas, das in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als Positivismusstreit bekannt geworden ist, und auf das sich das Zitat von Comte und im weiteren von Elias auch bezog. Dieser Streit fand zwischen Philosophen statt und ging um die Methoden in den Sozialwissenschaften. Die Kontrahenten waren auf der einen Seite Vertreter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, namentlich Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas, und auf der anderen Seite als Vertreter des Kritischen Rationalismus Karl Popper und Hans Albert. (Link zu allen findest du im oben angegebenen Link) "Positivismus" war dabei ein von Adorno verwendeter Kampfbegriff zu Beschreibung und Diffamierung der Gegenseite, die das natürlich nicht auf sich sitzen ließt, diese Bezeichnung für sich ablehnte und so ging das hin und her. Das sollte man berücksichtigen, wenn man den Begriff "Positivismus" verwendet, als wäre es in dieser Form eine real vertretene Position. "Der Positivismus" war also in erster Linie eine Unterstellung, der "metaphysischen" Seite, wobei deren Gegner interessanterweise nicht wesentlich weniger "metaphysisch" waren als sie selbst! Für mich ist dieser Streit insofern interessant, weil seine Ausläufer in die Zeit meines Studiums hineinragten, was immerhin mittlerweile fast 50 Jahre her ist. Meine Position dazu, das sollte nicht verwundern, ist nicht eine philosophische, sondern eine soziologische, nicht also eine, die zu beschreiben versucht, wie wissenschaftliche Methodik auszusehen hat, um in den Augen des Philosophen Anerkennung zu finden (etwas, worin sich beide Seiten damals übrigens einig waren, wenn sich auch auf diesem Wege zu unterschiedlichen Ergebnissen und Forderungen gelangten), sondern wie Wissenschaften in der Praxis wirklich arbeiten, eine Position, die schon damals quer zu den Fronten in der philosophischen Diskussion lag. Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
iskander Geschrieben 13. Januar Melden Share Geschrieben 13. Januar vor 21 Stunden schrieb Marcellinus: "Positivismus" war dabei ein von Adorno verwendeter Kampfbegriff zu Beschreibung und Diffamierung der Gegenseite, die das natürlich nicht auf sich sitzen ließt, diese Bezeichnung für sich ablehnte und so ging das hin und her. Das sollte man berücksichtigen, wenn man den Begriff "Positivismus" verwendet, als wäre es in dieser Form eine real vertretene Position. Gewiss. Allerdings gingen verschiedene "klassische" Vertreter des Positivismus wie etwa Ernst Mach tatsächlich so weit, etwa die Außenwelt bzw. unseren Zugang zu ihr abzustreiten. (Planck bezieht sich wohl auch hauptsächlich auf Mach.) So heißt es hier über Mach: "Mach hatte sich, nachdem er ursprünglich von Kant beeindruckt gewesen war, einer positivistischen (phänomenalistischen, empiriokritizistischen) Erkenntnislehre zugewendet. Den beobachtenden Menschen seien nur die Empfindungen ("Elemente") gegeben, wie z.B. in der "Analyse der Empfindungen" und in "Erkenntnis und Irrtum" (1905) dargelegt. Aus den Empfindungen auf eine reale Außenwelt zu schließen, sei Metaphysik und daher abzulehnen. Gegenstand der Wissenschaft sei demnach nicht eine von Menschen unabhängige Realität, sondern bloß die denkökonomische Verknüpfung von Empfindungen." Ich meine auch, dass Mach unter den Positivisten seiner Zeit damit keineswegs allein war (und dass er hier im Hinblick auf seine eigenen Prämissen konsequent war); aber ich gestehe, dass ich das jetzt auch nicht (mehr) im Detail präsent habe und nachrecherchieren müsste. Auch wichtige Vertreter des "logischen Positivismus" (auch "logischer Empirismus" genannt), der mit dem "klassischen" Positivismus relativ eng verwandt ist und vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jhs. aktiv war, negierten die Realität der Außenwelt. Oder genauer: Sogar schon entsprechende Fragen wurden für sinnlos (weil empirisch nicht überprüfbar) erklärt. Zitat [...] wobei deren Gegner interessanterweise nicht wesentlich weniger "metaphysisch" waren als sie selbst! Das würde ich auch im Hinblick auf eine Position wie die von Mach erweitern wollen - denn die Entscheidung, allein die Sinnesdaten (die "denkökonomisch" interpretiert werden) als Erkenntnisquelle zuzulassen, ist selbst nicht durch Sinnesdaten (und ihre Interpretation) zu rechtfertigen. vor 21 Stunden schrieb Marcellinus: Für mich ist dieser Streit insofern interessant, weil seine Ausläufer in die Zeit meines Studiums hineinragten, was immerhin mittlerweile fast 50 Jahre her ist. Meine Position dazu, das sollte nicht verwundern, ist nicht eine philosophische, sondern eine soziologische, nicht also eine, die zu beschreiben versucht, wie wissenschaftliche Methodik auszusehen hat, um in den Augen des Philosophen Anerkennung zu finden (etwas, worin sich beide Seiten damals übrigens einig waren, wenn sich auch auf diesem Wege zu unterschiedlichen Ergebnissen und Forderungen gelangten), sondern wie Wissenschaften in der Praxis wirklich arbeiten, eine Position, die schon damals quer zu den Fronten in der philosophischen Diskussion lag. Das sei Dir unbenommen. Aber wenn man davon ausgeht, dass die Wissenschaft uns in irgendeinem Sinne der "Wahrheit" näherbringt - und sei es auch nur dadurch, dass sukzessive Irrtümer ausscheidet und so den Raum dessen, was vernünftig denkbar ist, enger werden lässt: Kann man sich dann nicht mit Recht fragen, warum die Wissenschaft das leisten kann? Nicht nur im Sinne von: Welche sozialen und anderen Bedingungen müssen gegeben sein, damit Wissenschaft betrieben werden kann, sondern auch im Sinne von: Was macht die wissenschaftliche Methode valide? Was unterscheidet sie von einem reinen Herumhantieren, das ausschließlich irgendeiner willkürlichen Mode entspricht und ansonsten rational unbegründbar ist? Oder auch: Warum ist die eine wissenschaftliche vielleicht in der einen Wissenschaft sinnvoll, etwa der Physik, während bereits in der Biologie oder erst recht in der Soziologie andere Methoden als angebracht erscheinen? (Wieder geht es dabei nicht nur einfach darum, aufgrund welcher sachfremden, äußeren Einflüsse sich eine Methode durchsetzen mag, sondern warum wir doch annehmen, dass bestimmte Methoden auch "im Sinne der Sache" angemessen sein können.) Und auch andere Fragen ergeben sich wie die: Was bedeutet es, wenn Wissenschaftler über "Verursachung" oder "Gesetzmäßigkeiten" sprechen usw. Das sind eben Fragen, die von den empirischen Wissenschaften gewöhnlich selbst im Rahmen der Methodenlehre nur teilweise und nur bis zu einem gewissen Grade, nicht aber systematisch und in der "Tiefe" erörtern. Und sie liegen zum Teil auch ein gutes Stück weit weg von der alltäglichen Arbeit des empirischen Wissenschaftlers. Man muss solche Fragen gewiss nicht erst erörtert haben, um empirische Wissenschaft zu betreiben. Aber man kann solche Fragen stellen, einfach auch, weil sie von einem gewissen eigenen Interesse sind. Schließlich wollen wir ja nicht allein wissen, wie Wissenschaft funktioniert, sondern auch, warum sie das tut. Das eine ist vorwiegend eine deskriptive, das andere eine "geltungstheoretische" Frage. Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Marcellinus Geschrieben 13. Januar Melden Share Geschrieben 13. Januar (bearbeitet) vor 1 Stunde schrieb iskander: Am 12.1.2024 um 21:35 schrieb Marcellinus: "Positivismus" war dabei ein von Adorno verwendeter Kampfbegriff zu Beschreibung und Diffamierung der Gegenseite, die das natürlich nicht auf sich sitzen ließt, diese Bezeichnung für sich ablehnte und so ging das hin und her. Das sollte man berücksichtigen, wenn man den Begriff "Positivismus" verwendet, als wäre es in dieser Form eine real vertretene Position. Gewiss. Allerdings gingen verschiedene "klassische" Vertreter des Positivismus wie etwa Ernst Mach tatsächlich so weit, etwa die Außenwelt bzw. unseren Zugang zu ihr abzustreiten. (Planck bezieht sich wohl auch hauptsächlich auf Mach.) So heißt es hier über Mach: "Mach hatte sich, nachdem er ursprünglich von Kant beeindruckt gewesen war, einer positivistischen (phänomenalistischen, empiriokritizistischen) Erkenntnislehre zugewendet. Den beobachtenden Menschen seien nur die Empfindungen ("Elemente") gegeben, wie z.B. in der "Analyse der Empfindungen" und in "Erkenntnis und Irrtum" (1905) dargelegt. Aus den Empfindungen auf eine reale Außenwelt zu schließen, sei Metaphysik und daher abzulehnen. Gegenstand der Wissenschaft sei demnach nicht eine von Menschen unabhängige Realität, sondern bloß die denkökonomische Verknüpfung von Empfindungen." Ich meine auch, dass Mach unter den Positivisten seiner Zeit damit keineswegs allein war (und dass er hier im Hinblick auf seine eigenen Prämissen konsequent war); aber ich gestehe, dass ich das jetzt auch nicht (mehr) im Detail präsent habe und nachrecherchieren müsste. Auch wichtige Vertreter des "logischen Positivismus" (auch "logischer Empirismus" genannt), der mit dem "klassischen" Positivismus relativ eng verwandt ist und vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jhs. aktiv war, negierten die Realität der Außenwelt. Oder genauer: Sogar schon entsprechende Fragen wurden für sinnlos (weil empirisch nicht überprüfbar) erklärt. Zitat [...] wobei deren Gegner interessanterweise nicht wesentlich weniger "metaphysisch" waren als sie selbst! Das würde ich auch im Hinblick auf eine Position wie die von Mach erweitern wollen - denn die Entscheidung, allein die Sinnesdaten (die "denkökonomisch" interpretiert werden) als Erkenntnisquelle zuzulassen, ist selbst nicht durch Sinnesdaten (und ihre Interpretation) zu rechtfertigen. Am 12.1.2024 um 21:35 schrieb Marcellinus: Für mich ist dieser Streit insofern interessant, weil seine Ausläufer in die Zeit meines Studiums hineinragten, was immerhin mittlerweile fast 50 Jahre her ist. Meine Position dazu, das sollte nicht verwundern, ist nicht eine philosophische, sondern eine soziologische, nicht also eine, die zu beschreiben versucht, wie wissenschaftliche Methodik auszusehen hat, um in den Augen des Philosophen Anerkennung zu finden (etwas, worin sich beide Seiten damals übrigens einig waren, wenn sich auch auf diesem Wege zu unterschiedlichen Ergebnissen und Forderungen gelangten), sondern wie Wissenschaften in der Praxis wirklich arbeiten, eine Position, die schon damals quer zu den Fronten in der philosophischen Diskussion lag. Das sei Dir unbenommen. Ja, wie gesagt, das ist ein philosophisches Problem, und für mich höchstens von historischem Interesse. vor 1 Stunde schrieb iskander: Aber wenn man davon ausgeht, dass die Wissenschaft uns in irgendeinem Sinne der "Wahrheit" näherbringt - und sei es auch nur dadurch, dass sukzessive Irrtümer ausscheidet und so den Raum dessen, was vernünftig denkbar ist, enger werden lässt: Kann man sich dann nicht mit Recht fragen, warum die Wissenschaft das leisten kann? Nicht nur im Sinne von: Welche sozialen und anderen Bedingungen müssen gegeben sein, damit Wissenschaft betrieben werden kann, sondern auch im Sinne von: Was macht die wissenschaftliche Methode valide? Was unterscheidet sie von einem reinen Herumhantieren, das ausschließlich irgendeiner willkürlichen Mode entspricht und ansonsten rational unbegründbar ist? Was die wissenschaftliche Methode "valide" macht? Gar nichts! Es liegt nicht an der Methode. Mit der gleichen "Methode" arbeiten auch die, die wir "Verschwörungstheoretiker" nennen. Sie haben eine Hypothese, suchen nach Belegen dafür und übersehen großzügig das, was dem widerspricht. vor 1 Stunde schrieb iskander: Oder auch: Warum ist die eine wissenschaftliche vielleicht in der einen Wissenschaft sinnvoll, etwa der Physik, während bereits in der Biologie oder erst recht in der Soziologie andere Methoden als angebracht erscheinen? (Wieder geht es dabei nicht nur einfach darum, aufgrund welcher sachfremden, äußeren Einflüsse sich eine Methode durchsetzen mag, sondern warum wir doch annehmen, dass bestimmte Methoden auch "im Sinne der Sache" angemessen sein können.) Nun, im besten Fall ergeben sich unterschiedliche Methoden aus den unterschiedlichen Eigenschaften ihres Gegenstandes. Im schlechten Fall sind sie Tradition. Vorkommen tut beides. vor 1 Stunde schrieb iskander: Und auch andere Fragen ergeben sich wie die: Was bedeutet es, wenn Wissenschaftler über "Verursachung" oder "Gesetzmäßigkeiten" sprechen usw. Das ist nun wirklich meistens dem geschuldet, was wir "Zeitgeist" nennen. Weshalb zB. das Wort "Naturgesetz" in den Naturwissenschaften kaum noch verwendet wird, und außerhalb nur da, wo absolute Laien das Sagen haben. vor 1 Stunde schrieb iskander: Das sind eben Fragen, die von den empirischen Wissenschaften gewöhnlich selbst im Rahmen der Methodenlehre nur teilweise und nur bis zu einem gewissen Grade, nicht aber systematisch und in der "Tiefe" erörtern. Und sie liegen zum Teil auch ein gutes Stück weit weg von der alltäglichen Arbeit des empirischen Wissenschaftlers. Man muss solche Fragen gewiss nicht erst erörtert haben, um empirische Wissenschaft zu betreiben. Aber man kann solche Fragen stellen, einfach auch, weil sie von einem gewissen eigenen Interesse sind. Schließlich wollen wir ja nicht allein wissen, wie Wissenschaft funktioniert, sondern auch, warum sie das tut. Das eine ist vorwiegend eine deskriptive, das andere eine "geltungstheoretische" Frage. Nur daß die Philosophie genau mit dieser Frage regelmäßig scheitert, wie man am Beispiel von Thomas S. Kuhn sehr schön sehen kann, der zwar als Historiker feststellte, daß es so etwas wie Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften gibt, aber nicht erklären konnte, warum sich das eine durchsetzte und das andere verschwand. An Argumenten hatte es nicht gelegen, eher daran, daß die Vertreter der alten Theorie ausstarben. Die Philosophie hat sich daher, so weit ich dich richtig verstanden habe, eher darauf verlegt, nicht zu erklären, warum eine wissenschaftliche Theorie schließlich die ältere ablöst, sondern wie ein Theorie ihrer Ansicht nach beschaffen sein sollte, damit sie dies berechtigter Weise tun könne. "Geltung" eben! Dabei hat der Sieg einer wissenschaftlichen Theorie über eine ältere meistens nichts mit irgendwelchen Diskussionen um Geltung zu tun, sondern schlicht mit ihrem Erfolg außerhalb der wissenschaftlichen Welt. Die Erklärung dafür ist in der Regel (keine Regel ohne Ausnahme) eine soziologische Frage. Für den Sieg des heliozentrischen Weltbildes über das ptolemäische war sicher ihre bessere Verwertbarkeit bei der Navigation über die Weltmeere verantwortlich. Der Sieg der Darwin'schen Evolutionstheorie hatte vermutlich vor allem seine Ursache in der Unterstützung durch das aufstrebende, liberale Bürgertum, das viel Spaß daran hatte, sich gegen die Kirchen und Kleriker ihrer Zeit zu stellen. Also nicht wirklich ein praktischer, sondern eher ein politischer Zweck. Außerdem verband sich die Evolutionstheorie so gut mit dem Sozialdarwinismus der damaligen Zeit (was Biologen heute nicht mehr so gerne hören). Auch heute erleben wir wissenschaftliche Moden, die wenig mit Tatsachenbeobachtungen als mit der Verwertbarkeit von Ergebnissen in außenwissenschaftlichen Zusammenhängen zu tun hat. So hatte die Teilchenphysik lange Zeit fast unbegrenzte Mittel, weil sich die Staaten davon Erkenntnisse versprachen, die in die Entwicklung neuer Atomwaffen münden konnten, und die heutige Klimaforschung kann auch nur so lange auf immer neue Mittel hoffen, wie ihrer Vertreter das Narrativ unterstützen, das unsere und andere Regierungen zur Maxime ihres politischen Handelns gemacht haben. Das alles findet innerhalb der Wissenschaften statt, und ist auch kein Verstoß gegen ihre Methodik, nur widerspricht es dem verbreiteten Bild einer "heilen Wissenschaftswelt". Norbert Elias schrieb dazu schon 1970: „Der wissenschaftliche Fortschritt hängt in jedem Wissenschaftsgebiet auch vom wissenschaftlichen Standard und von dem wissenschaftlichen Ethos der Fachvertreter ab. Deren mehr oder weniger geregelte Konkurrenz, deren Auseinandersetzungen und Übereinkünfte entscheiden letzten Endes, ob und wie weit die Ergebnisse eines einzelnen Forschers als gesichert, als Gewinn, als Fortschritt des wissenschaftlichen Wissenserwerbs verbucht werden oder nicht. […] Man kann mit hoher Bestimmtheit sagen, daß es keine wissenschaftliche Methode gibt, deren Anwendung den wissenschaftlichen Wert einer Forschungsarbeit garantiert und vor Zeitvergeudung schützt, wenn der Konsens und die Kriterien der Fachvertreter in mehr oder weniger hohem Maße von außenwissenschaftlichen, von heteronomen Gesichtspunkten, etwas von politischen, religiösen, nationalen oder vielleicht auch von beruflichen Statuserwägungen bestimmt werden, wie das gerade in den Gesellschaftswissenschaften bisher nicht selten der Fall war und ist.“ (N.E. Was ist Soziologie?, 1970, S. 64f) bearbeitet 13. Januar von Marcellinus Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
iskander Geschrieben 14. Januar Melden Share Geschrieben 14. Januar (bearbeitet) vor 4 Stunden schrieb Marcellinus: Ja, wie gesagt, das ist ein philosophisches Problem, und für mich höchstens von historischem Interesse. Allerdings hat das "philosophische Problem" auch eine sachliche Seite. Wenn jemand beispielsweise nur das als "rational begründet" bzw. als "Wissen" akzeptiert, was sich empirisch prüfen lässt, dann hat derjenige doch auch keine rationale Begründung, um die Existenz eine "realen Außenwelt" oder des "Fremdpsychischen" anzusetzen. Wer will aber schon im vollen Ernst sagen: "Ich weiß absolut nicht, ob es außer mir noch etwas oder jemanden gibt; ich weiß es nicht nur nicht sicher, sondern habe dazu auch keine begründete Meinung. Dass es Dinge in der Welt und zudem auch noch andere Leute gibt, ist nichts als reine Spekulation." vor 4 Stunden schrieb Marcellinus: Was die wissenschaftliche Methode "valide" macht? Gar nichts! Es liegt nicht an der Methode. Mit der gleichen "Methode" arbeiten auch die, die wir "Verschwörungstheoretiker" nennen. Sie haben eine Hypothese, suchen nach Belegen dafür und übersehen großzügig das, was dem widerspricht. Du vertrittst aber doch im Hinblick auf die Wissenschaft keine Position, die man als "Irrationalismus" bezeichnen würde (ich meine das nicht wertend, sondern folge hier dem üblichen Sprachgebrauch). Das heißt: Du anerkennst doch, dass die Wissenschaft sich doch zumindest in dem Sinne der Wirklichkeit annähert (jedenfalls im günstigen Fall), dass ihre Modelle der Wirklichkeit zunehmend besser gerecht werden? Zumindest so weit, dass die Wissenschaft (im günstigen Fall) bisherige falsche Vorstellungen gültig widerlegen kann? "Gültig widerlegen" heißt hier: Mit den besseren Argumenten in der Sache, nicht allein mit politischer Macht oder PR. Oder zumindest hatte ich Dich bisher so verstanden...? vor 4 Stunden schrieb Marcellinus: Nun, im besten Fall ergeben sich unterschiedliche Methoden aus den unterschiedlichen Eigenschaften ihres Gegenstandes. Im schlechten Fall sind sie Tradition. Vorkommen tut beides. Ja - aber wieso ein bestimmter Gegenstand bestimmte Methoden nahelegt und ein anderer Gegenstand eine andere Methode, was diese Methoden für Gemeinsamkeiten und Unterscheide haben, und welche übergreifenden Methoden es ggf. gibt usw: Sind das nicht Fragen, die man sich sinnvoll stellen kann? vor 4 Stunden schrieb Marcellinus: Das ist nun wirklich meistens dem geschuldet, was wir "Zeitgeist" nennen. Weshalb zB. das Wort "Naturgesetz" in den Naturwissenschaften kaum noch verwendet wird, und außerhalb nur da, wo absolute Laien das Sagen haben. Wie nun da die aktuelle Sprachmoden aussehen, lasse ich offen. Der Sache nach jedenfalls formulieren Naturwissenschaftler allgemeine Aussagen, die die Form von Allgemein-Aussagen mit "Wenn-dann"-Struktur haben. Und solche Aussagen - etwa die Gesetze der Thermodynamik oder der Optik oder der Quantenmechanik - werden nach wie vor vertreten (sei es als Aussagen mit echtem Anspruch auf Geltung oder als Postulate). Und warum sollte man dann nicht sinnvollerweise auch fragen dürfen, was solche Arten von Allgemeinaussagen ausmacht, was ihre logische Struktur ist usw? Oder was z.B. eine "wissenschaftliche Erklärung" ist usw? vor 4 Stunden schrieb Marcellinus: Nur daß die Philosophie genau mit dieser Frage regelmäßig scheitert, wie man am Beispiel von Thomas S. Kuhn sehr schön sehen kann, der zwar als Historiker feststellte, daß es so etwas wie Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften gibt, aber nicht erklären konnte, warum sich das eine durchsetzte und das andere verschwand. Nun, bei allem Respekt vor Thomas Kuhn und dem, was er richtig erkannt hat, ist er nicht der Anfang und auch nicht das Ende der Wissenschaftstheorie. Siehe beispielsweise (bei Interesse): "We will show that the view commonly attributed to Kuhn, although heuristically compelling, contains important features that are inaccurate when applied to historical developments in physics, the psychology of learning, and mediation theory. The account offered by Lakatos (1970) provides an attractive solution to some of the difficulties posed by Kuhn's analysis but has liabilities of its own. These are remedied by Laudan (1977), who provided a critical synthesis of the accounts offered by Kuhn and Lakatos while making a number of original contributions." https://www.beniculturali.unipd.it/www/wp-content/uploads/2013/04/Gholson1985.pdf vor 4 Stunden schrieb Marcellinus: An Argumenten hatte es nicht gelegen, eher daran, daß die Vertreter der alten Theorie ausstarben. Gut: Nur warum sterben die Vertreter der alten Theorie aus? Warum gibt es keinen Nachwuchs? Ist es wirklich immer nur eine Frage der Macht und Mode? Wenn wir heutzutage doch eher annehmen, dass Blitze elektrische Entladungen sind und keine Waffen, mit denen ein Gott namens Zeus hantiert: Hat das dann wirklich gar nichts mit inhaltlichen Argumenten zu tun? Zitat Die Philosophie hat sich daher, so weit ich dich richtig verstanden habe, eher darauf verlegt, nicht zu erklären, warum eine wissenschaftliche Theorie schließlich die ältere ablöst, sondern wie ein Theorie ihrer Ansicht nach beschaffen sein sollte, damit sie dies berechtigter Weise tun könne. "Geltung" eben! Wenn es nur um die Rekonstruktion des Historischen als eines rein Faktischen geht, wobei unterstellt wird, dass in der Wissenschaft allein sachfremde Einflüsse am Werk sind - nun, dann kann man diesbezüglich auf die Philosophie wohl in der Tat weitgehend verzichten. Wenn man jedoch annimmt, dass zumindest in günstigen Fällen auch sachliche Gründe eine Rolle für die Entwicklung der Wissenschaft spielen, dann kann man natürlich auch genau diesen Aspekt der der Rationalität beschreiben und untersuchen (auch in einer Weise, die von den Einzelwissenschaften gewöhnlich nicht geleistet wird). Dann geht es eben nicht nur um Ursachen, sondern auch um Gründe; nicht nur um Genese, sondern auch um Geltung. Nicht nur darum, wieso wissenschaftliche Methoden faktisch angewandt werden, sondern auch darum, warum die Anwendung zumindest mancher dieser Methoden auch sinnvoll ist. (Und eine ernsthafte Studie, die (auch) Geltungsfragen stellt, wird natürlich dennoch das Tatsächliche nicht ignorieren dürfen, sondern wird aus ihm lernen.) vor 4 Stunden schrieb Marcellinus: Norbert Elias schrieb dazu schon 1970: „Der wissenschaftliche Fortschritt hängt in jedem Wissenschaftsgebiet auch vom wissenschaftlichen Standard und von dem wissenschaftlichen Ethos der Fachvertreter ab. Deren mehr oder weniger geregelte Konkurrenz, deren Auseinandersetzungen und Übereinkünfte entscheiden letzten Endes, ob und wie weit die Ergebnisse eines einzelnen Forschers als gesichert, als Gewinn, als Fortschritt des wissenschaftlichen Wissenserwerbs verbucht werden oder nicht. […] Man kann mit hoher Bestimmtheit sagen, daß es keine wissenschaftliche Methode gibt, deren Anwendung den wissenschaftlichen Wert einer Forschungsarbeit garantiert und vor Zeitvergeudung schützt, wenn der Konsens und die Kriterien der Fachvertreter in mehr oder weniger hohem Maße von außenwissenschaftlichen, von heteronomen Gesichtspunkten, etwas von politischen, religiösen, nationalen oder vielleicht auch von beruflichen Statuserwägungen bestimmt werden, wie das gerade in den Gesellschaftswissenschaften bisher nicht selten der Fall war und ist.“ (N.E. Was ist Soziologie?, 1970, S. 64f) (Hervorhebung von mir.) Für mich klingt das so, dass der "Konsens und die Kriterien der Fachvertreter" eben nicht immer NUR "in mehr oder weniger hohem Maße von außenwissenschaftlichen, von heteronomen Gesichtspunkten [...] bestimmt werden". Vielmehr klingt das für mich so, dass es durchaus auch an und für sich sachdienliche und solide wissenschaftliche Methoden geben kann, deren Wert jedoch konterkariert wird, wenn sachfremde Einflüsse zu stark sind. Und dass der "wissenschaftlicher Ethos der Fachvertreter" sowie die "mehr oder weniger geregelte Konkurrenz, deren Auseinandersetzungen und Übereinkünfte" eine sehr wichtige Rolle spielen, wird man ebenfalls nicht abstreiten wollen. Allerdings interpretiere ich das nicht so, dass Elias es ausschließen würde, dass unter günstigen Bedingungen viele Fachvertreter einen respektablen Ethos haben können, dass dann eine sinnvoll geregelte Konkurrenz herrschen können, und dass die Auseinandersetzungen und Übereinkünfte der Wissenschaftler auch so geartet sein können, dass der echte wissenschaftliche Fortschritt begünstigt wird. So wie ich Elias hier verstehe (zugegeben ohne größeren Kontext), sagt er, dass Rationales und Irrationales, Sachliches und Sachfremdes in der Wissenschaft eine Rolle spielen, wobei mal mehr das eine und mal mehr das andere sich durchsetzt. Wenn das so gemeint ist, stimme ich dem gerne zu. Dann kann man sowohl sinnvoll untersuchen, wie die Wissenschaft faktisch vorgeht, aber auch, wieso das, was an ihr rational ist, eben rational ist. Und dass Du selbst ganz auf die Rationalität der Wissenschaft zu verzichten gewillt bist, kann ich mir auch nicht vorstellen, denn: vor 4 Stunden schrieb Marcellinus: Der Sieg der Darwin'schen Evolutionstheorie hatte vermutlich vor allem seine Ursache in der Unterstützung durch das aufstrebende, liberale Bürgertum zu tun, das viel Spaß daran hatte, sich gegen die Kirchen und Kleriker ihrer Zeit zu stellen. Also nicht wirklich ein praktischer, sondern eher ein politischer Zweck. Außerdem verband sich die Evolutionstheorie so gut mit dem Sozialdarwinismus der damaligen Zeit (was Biologen heute nicht mehr so gerne hören). Das mag ja alles eine Rolle gespielt haben. Aber ist es nicht unabhängig davon eine interessante Frage, ob die Evolutionstheorie der Sache nach rational ist? Zumindest in dem Sinne, dass wir derzeit nichts Glaubwürdigeres haben? Und dass das, was mit ihr an Wissen verbunden ist, so weit reicht, dass es wenigstens ein wörtliches Verständnis der Genesis - die Erschaffung des Lebens (oder ganzen Welt) innerhalb von nur sechs Tagen - überzeugend widerlegt? Das sind geltungstheoretisches Fragen. Denn da geht es nicht darum, welche sachfremden Prozesse der Evolutionstheorie zum Durchbruch verholfen haben mögen oder ihr heute dazu helfen mögen, dominant zu bleiben - sondern es geht darum, ob die Evolutionstheorie zumindest in der gerade dargelegten Sinne für sich in Anspruch nehmen darf, "in der Sache" begründet zu sein. Falls Du derartige Fragen für irrelevant halten solltest, würde es mich allerdings wundern, wieso Du die Evolutionstheorie immer wieder als Argument gegen eine Erschaffung der Welt ins sechs Tagen anführst (wenn nicht gar gegen jede Schöpfung überhaupt). Denn wenn sich eine wissenschaftliche Theorie nur auf Mode und ähnliches stützen könnte - was wäre sie dann als Argument wert? vor 4 Stunden schrieb Marcellinus: Auch heute erleben wir wissenschaftliche Moden, die wenig mit Tatsachenbeobachtungen als mit der Verwertbarkeit von Ergebnissen in außenwissenschaftlichen Zusammenhängen zu tun hat. So hatte die Teilchenphysik lange Zeit fast unbegrenzte Mittel, weil sich die Staaten davon Erkenntnisse versprachen, die in die Entwicklung neuer Atomwaffen münden konnten, und die heutige Klimaforschung kann auch nur so lange auf immer neue Mittel hoffen, wie ihrer Vertreter das Narrativ unterstützen, daß unsere und andere Regierungen zur Maxime ihres politischen Handelns gemacht haben. Sicherlich. Und doch scheint mir Deine Formulierung nahezulegen, dass Du zwischen (in meinen Worten) "solider" und "weniger solider" Wissenschaft unterscheidest und eben nicht alles über einen Kamm scherst - oder irre ich mich da? Und wenn Du solche Unterscheidungen treffen "darfst" - sollten das nicht auch andere "dürfen"? "Sogar" Philosophen? bearbeitet 14. Januar von iskander Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Marcellinus Geschrieben 14. Januar Melden Share Geschrieben 14. Januar vor 20 Stunden schrieb iskander: vor 23 Stunden schrieb Marcellinus: Ja, wie gesagt, das ist ein philosophisches Problem, und für mich höchstens von historischem Interesse. Allerdings hat das "philosophische Problem" auch eine sachliche Seite. Wenn jemand beispielsweise nur das als "rational begründet" bzw. als "Wissen" akzeptiert, was sich empirisch prüfen lässt, dann hat derjenige doch auch keine rationale Begründung, um die Existenz eine "realen Außenwelt" oder des "Fremdpsychischen" anzusetzen. Wer will aber schon im vollen Ernst sagen: "Ich weiß absolut nicht, ob es außer mir noch etwas oder jemanden gibt; ich weiß es nicht nur nicht sicher, sondern habe dazu auch keine begründete Meinung. Dass es Dinge in der Welt und zudem auch noch andere Leute gibt, ist nichts als reine Spekulation." Das ist wieder eine ganz anderen Nummer. Natürlich gibt es eine "Wirklichkeit", wir waren nur noch nie da, nicht mal auf Besuch! Wenn es keine Wirklichkeit gäbe, gäbe es uns nicht, und damit auch keine Notwendigkeit oder auch nur Möglichkeit, sich zu unterhalten. vor 20 Stunden schrieb iskander: vor 23 Stunden schrieb Marcellinus: Was die wissenschaftliche Methode "valide" macht? Gar nichts! Es liegt nicht an der Methode. Mit der gleichen "Methode" arbeiten auch die, die wir "Verschwörungstheoretiker" nennen. Sie haben eine Hypothese, suchen nach Belegen dafür und übersehen großzügig das, was dem widerspricht. Du vertrittst aber doch im Hinblick auf die Wissenschaft keine Position, die man als "Irrationalismus" bezeichnen würde (ich meine das nicht wertend, sondern folge hier dem üblichen Sprachgebrauch). Das heißt: Du anerkennst doch, dass die Wissenschaft sich doch zumindest in dem Sinne der Wirklichkeit annähert (jedenfalls im günstigen Fall), dass ihre Modelle der Wirklichkeit zunehmend besser gerecht werden? Zumindest so weit, dass die Wissenschaft (im günstigen Fall) bisherige falsche Vorstellungen gültig widerlegen kann? "Gültig widerlegen" heißt hier: Mit den besseren Argumenten in der Sache, nicht allein mit politischer Macht oder PR. Oder zumindest hatte ich Dich bisher so verstanden...? Nein, nein, und nochmals nein! "Widerlegen von falschen Vorstellungen" geht nicht per Argument! Wenn ich jemanden mit Argumenten überzeugen kann, war er sowieso schon meiner Meinung, oder wir waren eh nicht weit auseinander. Vorstellungen, die man später als "falsch" bezeichnet, scheitern in der Regel daran, daß empirische Tatsachen beobachtet werden, die sich mit der alten Theorie beim besten Willen nicht mehr erklären lassen. Die Theorie, daß die Titanic unsinkbar sei, war erst und endgültig gescheitert, als das Wasser die Bordkapelle verschluckte. vor 20 Stunden schrieb iskander: vor 23 Stunden schrieb Marcellinus: Nun, im besten Fall ergeben sich unterschiedliche Methoden aus den unterschiedlichen Eigenschaften ihres Gegenstandes. Im schlechten Fall sind sie Tradition. Vorkommen tut beides. Ja - aber wieso ein bestimmter Gegenstand bestimmte Methoden nahelegt und ein anderer Gegenstand eine andere Methode, was diese Methoden für Gemeinsamkeiten und Unterscheide haben, und welche übergreifenden Methoden es ggf. gibt usw: Sind das nicht Fragen, die man sich sinnvoll stellen kann? Die Methoden sind nicht das Problem. Methoden werden immer dann in feste Formen gegossen, wenn sich in einem Fach eine bestimmte Theorie durchgesetzt hat. Dann wird diese Theorie zum Maßstab, und wer ihren Methoden nicht folgt, bekommt weder Anstellung noch Anerkennung. Bis dann jemand um die Ecke kommt, der auf die alten Methoden pfeift, und empirische Tatsachenbeobachtungen vorweisen kann, die die anderen beim besten Willen nicht mehr ignorieren können. Das dieses Ignorieren neuer Erkenntnisse durchaus lange dauern kann, dafür liefert zB. die Medizingeschichte zahlreiche Beispiele. vor 20 Stunden schrieb iskander: vor 23 Stunden schrieb Marcellinus: Das ist nun wirklich meistens dem geschuldet, was wir "Zeitgeist" nennen. Weshalb zB. das Wort "Naturgesetz" in den Naturwissenschaften kaum noch verwendet wird, und außerhalb nur da, wo absolute Laien das Sagen haben. Wie nun da die aktuelle Sprachmoden aussehen, lasse ich offen. Der Sache nach jedenfalls formulieren Naturwissenschaftler allgemeine Aussagen, die die Form von Allgemein-Aussagen mit "Wenn-dann"-Struktur haben. Und solche Aussagen - etwa die Gesetze der Thermodynamik oder der Optik oder der Quantenmechanik - werden nach wie vor vertreten (sei es als Aussagen mit echtem Anspruch auf Geltung oder als Postulate). Und warum sollte man dann nicht sinnvollerweise auch fragen dürfen, was solche Arten von Allgemeinaussagen ausmacht, was ihre logische Struktur ist usw? Oder was z.B. eine "wissenschaftliche Erklärung" ist usw? Nur gilt diese "logische Struktur" für richtige wie für falsche Theorien. Oft sind die falschen sogar überzeugender, weil sie eher den herrschenden Vorurteilen entsprechen. Richtigkeit ist keine Frage der Logik. vor 20 Stunden schrieb iskander: vor 23 Stunden schrieb Marcellinus: An Argumenten hatte es nicht gelegen, eher daran, daß die Vertreter der alten Theorie ausstarben. Gut: Nur warum sterben die Vertreter der alten Theorie aus? Warum gibt es keinen Nachwuchs? Ist es wirklich immer nur eine Frage der Macht und Mode? Wenn wir heutzutage doch eher annehmen, dass Blitze elektrische Entladungen sind und keine Waffen, mit denen ein Gott namens Zeus hantiert: Hat das dann wirklich gar nichts mit inhaltlichen Argumenten zu tun? Mit Inhalten schon, nur nicht in erster Linie mit Argumenten. Verargumentieren kann man jeden Blödsinn. Erst das Blitzableiter-Experiment von Benjamin Franklin hat metaphysischen Deutung von Gewittern endgültig den Garaus gemacht. vor 20 Stunden schrieb iskander: Zitat Die Philosophie hat sich daher, so weit ich dich richtig verstanden habe, eher darauf verlegt, nicht zu erklären, warum eine wissenschaftliche Theorie schließlich die ältere ablöst, sondern wie ein Theorie ihrer Ansicht nach beschaffen sein sollte, damit sie dies berechtigter Weise tun könne. "Geltung" eben! Wenn es nur um die Rekonstruktion des Historischen als eines rein Faktischen geht, wobei unterstellt wird, dass in der Wissenschaft allein sachfremde Einflüsse am Werk sind - nun, dann kann man diesbezüglich auf die Philosophie wohl in der Tat weitgehend verzichten. Wenn man jedoch annimmt, dass zumindest in günstigen Fällen auch sachliche Gründe eine Rolle für die Entwicklung der Wissenschaft spielen, dann kann man natürlich auch genau diesen Aspekt der der Rationalität beschreiben und untersuchen (auch in einer Weise, die von den Einzelwissenschaften gewöhnlich nicht geleistet wird). Dann geht es eben nicht nur um Ursachen, sondern auch um Gründe; nicht nur um Genese, sondern auch um Geltung. Nicht nur darum, wieso wissenschaftliche Methoden faktisch angewandt werden, sondern auch darum, warum die Anwendung zumindest mancher dieser Methoden auch sinnvoll ist. (Und eine ernsthafte Studie, die (auch) Geltungsfragen stellt, wird natürlich dennoch das Tatsächliche nicht ignorieren dürfen, sondern wird aus ihm lernen.) Auch wieder nein! Erstens haben sich wissenschaftliche Revolutionen, und nur über die reden wir hier, immer nur durchgesetzt, wenn die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen dafür förderlich waren. Die Wissenschaft, die für solche Untersuchungen prädestiniert ist, ist die Soziologie. Die Philosophie hat darin keine Aktien. Diese wissenschaftlichen Revolutionen hatten immer auch Auswirkungen auf die Gesellschaften, in denen sie stattfanden, in der Regel in der Form, daß sie den Gesellschaften in der Konkurrenz mit anderen einen Vorteil verschafften. Auch das ist nicht das Ergebnis von Diskussionen, oder Argumenten oder "Rationalität", sondern schlicht von sozialen Prozessen, und auch dafür ist die richtige Wissenschaft die Soziologie. Daß sie diese Aufgabe bis heute nicht wirklich erfüllt, ist eine andere Frage. Die Frage nach dem "Sinn" stellt sich überhaupt nicht. Welchen "Sinn" hatte das Auto, als es erfunden wurde, welchen das Smartphone. Die Menschen nutzen neue Möglichkeiten, und die Gesellschaften, die sie miteinander bilden, verändern sich dadurch. Nichts was mit irgendwelchen philosophischen Geltungsfragen zu tun hätte. Was Philosophen allerdings nicht davon abhält, sich hinterher darüber auszulassen, wie sie das finden. Aber das ist ein Thema fürs Feuilleton. vor 20 Stunden schrieb iskander: vor 23 Stunden schrieb Marcellinus: Norbert Elias schrieb dazu schon 1970: „Der wissenschaftliche Fortschritt hängt in jedem Wissenschaftsgebiet auch vom wissenschaftlichen Standard und von dem wissenschaftlichen Ethos der Fachvertreter ab. Deren mehr oder weniger geregelte Konkurrenz, deren Auseinandersetzungen und Übereinkünfte entscheiden letzten Endes, ob und wie weit die Ergebnisse eines einzelnen Forschers als gesichert, als Gewinn, als Fortschritt des wissenschaftlichen Wissenserwerbs verbucht werden oder nicht. […] Man kann mit hoher Bestimmtheit sagen, daß es keine wissenschaftliche Methode gibt, deren Anwendung den wissenschaftlichen Wert einer Forschungsarbeit garantiert und vor Zeitvergeudung schützt, wenn der Konsens und die Kriterien der Fachvertreter in mehr oder weniger hohem Maße von außenwissenschaftlichen, von heteronomen Gesichtspunkten, etwas von politischen, religiösen, nationalen oder vielleicht auch von beruflichen Statuserwägungen bestimmt werden, wie das gerade in den Gesellschaftswissenschaften bisher nicht selten der Fall war und ist.“ (N.E. Was ist Soziologie?, 1970, S. 64f) (Hervorhebung von mir.) Für mich klingt das so, dass der "Konsens und die Kriterien der Fachvertreter" eben nicht immer NUR "in mehr oder weniger hohem Maße von außenwissenschaftlichen, von heteronomen Gesichtspunkten [...] bestimmt werden". Vielmehr klingt das für mich so, dass es durchaus auch an und für sich sachdienliche und solide wissenschaftliche Methoden geben kann, deren Wert jedoch konterkariert wird, wenn sachfremde Einflüsse zu stark sind. Und dass der "wissenschaftlicher Ethos der Fachvertreter" sowie die "mehr oder weniger geregelte Konkurrenz, deren Auseinandersetzungen und Übereinkünfte" eine sehr wichtige Rolle spielen, wird man ebenfalls nicht abstreiten wollen. Allerdings interpretiere ich das nicht so, dass Elias es ausschließen würde, dass unter günstigen Bedingungen viele Fachvertreter einen respektablen Ethos haben können, dass dann eine sinnvoll geregelte Konkurrenz herrschen können, und dass die Auseinandersetzungen und Übereinkünfte der Wissenschaftler auch so geartet sein können, dass der echte wissenschaftliche Fortschritt begünstigt wird. Oh, keine Frage! Nur sind diese Bedingungen, unter denen das passiert, gesamtgesellschaftliche Bedingung, und nicht Ergebnis abgehobener Diskussionen. vor 20 Stunden schrieb iskander: So wie ich Elias hier verstehe (zugegeben ohne größeren Kontext), sagt er, dass Rationales und Irrationales, Sachliches und Sachfremdes in der Wissenschaft eine Rolle spielen, wobei mal mehr das eine und mal mehr das andere sich durchsetzt. Wenn das so gemeint ist, stimme ich dem gerne zu. Dann kann man sowohl sinnvoll untersuchen, wie die Wissenschaft faktisch vorgeht, aber auch, wieso das, was an ihr rational ist, eben rational ist. Nur sind das Untersuchungen, die nicht philosophischer sondern wissenssoziologischer Art sind. "Rationalität" ist nämlich kein apriorischer Zustand und existiert als Eigenschaft so wenig wie "Wahrheit". vor 20 Stunden schrieb iskander: Und dass Du selbst ganz auf die Rationalität der Wissenschaft zu verzichten gewillt bist, kann ich mir auch nicht vorstellen, denn: vor 23 Stunden schrieb Marcellinus: Der Sieg der Darwin'schen Evolutionstheorie hatte vermutlich vor allem seine Ursache in der Unterstützung durch das aufstrebende, liberale Bürgertum zu tun, das viel Spaß daran hatte, sich gegen die Kirchen und Kleriker ihrer Zeit zu stellen. Also nicht wirklich ein praktischer, sondern eher ein politischer Zweck. Außerdem verband sich die Evolutionstheorie so gut mit dem Sozialdarwinismus der damaligen Zeit (was Biologen heute nicht mehr so gerne hören). Das mag ja alles eine Rolle gespielt haben. Aber ist es nicht unabhängig davon eine interessante Frage, ob die Evolutionstheorie der Sache nach rational ist? Zumindest in dem Sinne, dass wir derzeit nichts Glaubwürdigeres haben? Und dass das, was mit ihr an Wissen verbunden ist, so weit reicht, dass es wenigstens ein wörtliches Verständnis der Genesis - die Erschaffung des Lebens (oder ganzen Welt) innerhalb von nur sechs Tagen - überzeugend widerlegt? Überzeugend widerlegt? Hat es doch bis heute viele nicht! Für Kreationisten ist es bis heute ein Irrglaube (wie der Kreationismus für uns). Du scheint "Rationalität" wie ein Zauberwort zu benutzen, aber hilft es irgendwo weiter? Es ist ein Anspruch, meistens mit verbunden mit der Abwertung anderer. Aber du kannst wunderbar "rational" sein, und trotzdem im Irrtum. Selbst die meisten Verschwörungstheorien sind "rational" von vorn bis hinter. Nur eben auch falsch. Und ja, es gibt auch Verschwörungstheorien, die sich belegen lassen. vor 20 Stunden schrieb iskander: Das sind geltungstheoretisches Fragen. Denn da geht es nicht darum, welche sachfremden Prozesse der Evolutionstheorie zum Durchbruch verholfen haben mögen oder ihr heute dazu helfen mögen, dominant zu bleiben - sondern es geht darum, ob die Evolutionstheorie zumindest in der gerade dargelegten Sinne für sich in Anspruch nehmen darf, "in der Sache" begründet zu sein. Falls Du derartige Fragen für irrelevant halten solltest, würde es mich allerdings wundern, wieso Du die Evolutionstheorie immer wieder als Argument gegen eine Erschaffung der Welt ins sechs Tagen anführst (wenn nicht gar gegen jede Schöpfung überhaupt). Denn wenn sich eine wissenschaftliche Theorie nur auf Mode und ähnliches stützen könnte - was wäre sie dann als Argument wert? Sie ist als Argument wertlos! Das kannst du doch hier ständig beobachten. Sie überzeugt niemanden, der dem Kreationismus anhängt. Sie ist durch Tatsachenbeobachtungen belegt, was man von keinem Kreationismus behaupten kann, aber das ist keine Frage der "Geltung". Für Kreationisten gilt sie nicht! vor 20 Stunden schrieb iskander: vor 23 Stunden schrieb Marcellinus: Auch heute erleben wir wissenschaftliche Moden, die wenig mit Tatsachenbeobachtungen als mit der Verwertbarkeit von Ergebnissen in außenwissenschaftlichen Zusammenhängen zu tun hat. So hatte die Teilchenphysik lange Zeit fast unbegrenzte Mittel, weil sich die Staaten davon Erkenntnisse versprachen, die in die Entwicklung neuer Atomwaffen münden konnten, und die heutige Klimaforschung kann auch nur so lange auf immer neue Mittel hoffen, wie ihrer Vertreter das Narrativ unterstützen, daß unsere und andere Regierungen zur Maxime ihres politischen Handelns gemacht haben. Sicherlich. Und doch scheint mir Deine Formulierung nahezulegen, dass Du zwischen (in meinen Worten) "solider" und "weniger solider" Wissenschaft unterscheidest und eben nicht alles über einen Kamm scherst - oder irre ich mich da? Und wenn Du solche Unterscheidungen treffen "darfst" - sollten das nicht auch andere "dürfen"? "Sogar" Philosophen? Ich tue es, und Philosophen tun es auch. Das ist nicht die Frage. Die Frage, die auch du dir stellen solltest, ist, wessen Vorstellungen realistischer sind. Du argumentierst mit "Rationalität", als wenn man nur einer bestimmten Art zu denken folgen müßte, und das Ergebnis wär "gültig". Aber erstens gibt es diese "Rationalität" nicht, so wie es DIE wissenschaftliche Methode nicht gibt. Und selbst wenn man sich nur auf das beschränken würde, was zu einer bestimmten Zeit als "rational" gilt, so garantiert das noch nicht, daß das Ergebnis "gültig" oder "wahr" ist. Das ist aber, zumindest wenn ich deiner Darstellung folge, die Überzeugung der Philosophie, Spezialisten zu sein für "Vernunft", "Rationalität" und "Wahrheit". Die beobachtbare Wirklichkeit spricht dagegen. Dazu gleich noch ein paar Beispiele. Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Marcellinus Geschrieben 14. Januar Melden Share Geschrieben 14. Januar Im Folgenden drei kurze Beispiele, wie Erkenntnisfortschritt stattfindet oder auch nicht. Das erste stammt aus dem Bereich der Geschichtswissenschaft, genauer gesagt aus dem der Archäologie. Es geht um eine Folge von Ereignissen und Deutungen im Zusammenhang mit dem, was gemeinhin als die Varus-Schlacht bezeichnet wird. Dort hatte ein Koalition von Germanenstämmen unter der Führung von Arminius, einem ehemaligen Anführer römischer Hilfstruppen drei römische Legionen auf dem Rückmarsch ins Winterlager überfallen und weitgehend vernichtet. Die Geschichtswissenschaft (und mit ihr die deutsche Öffentlichkeit besonders im Kaiserreich) war sich seitdem einig, daß dies der endgültige Sieg der Germanen über die Römer östlich des Rheins gewesen sei. Bis, ja bis im Jahre 2008 Funde von Sondengängern bekannt wurden, die darauf hindeuteten, daß um das Jahr 235/236 am Westrand des Harzes im heutigen Niedersachsen eine militärische Auseinandersetzung zwischen Römischen Legionären und Germanischen Kriegern stattgefunden hat, die die Römer siegreich verließen. Damit war klar, daß die Römer auch noch im 3. Jh. großflächige militärische Operationen östlich des Rheins durchführten. Zwar hatten römische Autoren davon berichtet, doch hatte man dies für unwahrscheinlich gehalten. Nun war man durch einen archäologischen Glücksfall eines besseren belehrt worden. Das zweite Beispiel stammt aus der Astrophysik. Dort finden seit Jahrzehnten Diskussionen über die sogenannte „Stringtheorie“ statt. Der Physik-Nobelpreisträger Robert B. Laughlin schreibt dazu in seinen Buch „Abschied von der Weltformel“: „Es macht ungeheuer viel Spaß, über die Stringtheorie nachzudenken, weil viele ihrer inneren Beziehungen unerwartet einfach und schön sind. Abgesehen davon, daß sie den Mythos von der ultimativen Theorie stützt, hat sie jedoch keinen praktischen Nutzen. Es gibt keine experimentellen Beweise für die Existenz von Strings in der Natur […]. In Wahrheit ist die Stringtheorie ein Schulbeispiel für eine Trügerische Truthenne, ein schöner Satz von Ideen, die immer knapp außerhalb der Reichweite bleiben werden.“ Das dritte Beispiel ist der schon erwähnte Positivismusstreit. Während die ersten beiden innerhalb der theoretisch-empirischen Wissenschaften stattfanden, war dies ein Streit innerhalb der Philosophie. Zwei Gruppen von Philosophen, und mit ihren zwei philosophische Schulen, stritten miteinander um das, was doch als der Kern philosophischer Kompetenz gilt: die Entscheidung von Geltungsfragen. Wundert es jemanden, daß sie sich nicht einigen konnten? Das erste Beispiel hat gezeigt, wie es in den theoretisch-empirischen Wissenschaften zu neuen Erkenntnissen kommt, die alte Gewissheiten über den Haufen werfen. Denn Diskussionen hatte es im die Rolle und Bedeutung der Varusschlacht auch schon vor der Entdeckung des Harzhornereignisses gegeben. Nur waren die immer von denen dominiert worden, die zu fasziniert waren von der Ideen, die Germanen hätten in dieser einen Schlacht im Jahr 9 das riesige Römische Reich besiegt, eine Vorstellung, die nachträglich wohl nur aus nationalem Überschwang zu erklären ist. Erst archäologische Befunden, die man nicht mehr wegdiskutieren konnte, haben einer realistischeren Sichtweise den Weg geöffnet, in dessen Blick nun auch andere Tatsachenbeobachtungen ein anderes Gewicht bekommen. Das zweite Beispiel zeigt, daß auch eine so alte und ehrwürdige Naturwissenschaft wie die Physik auf Abwege geraten und zur Metaphysik verkommen kann, wenn „man beim Nachdenken über eine Sache dem Denken selbst den Vorrang vor der Sache gibt“, wie Rolf Hellmut Foerster so treffend formuliert hat. Wo empirische Daten fehlen, hört theoretisch-empirische Wissenschaft auf. Da helfen auch nicht die Denkschulen der Philosophie, die doch für sich in Anspruch nehmen, ausgehend von ihren jeweiligen Prämissen zu gültigen Schlüssen kommen zu können. Das dritte Beispiel zeigt, daß das nicht einmal auf ihrem ureigenen Gebiet gilt, der Welt der reinen Gedanken. Vielleicht sollten sich die Philosophen, die sich doch so viel auf Logik und Rationalität zugute halten, daran erinnern, daß Logik ursprünglich im Altertum entwickelt wurde, um Anwälten ein Mittel an die Hand zu geben, in öffentlichen Rechtsangelegenheiten auf dem Forum die Interessen ihrer Klienten möglichst wirkungsvoll zu vertreten. Es ging nicht um „Wahrheit“, sondern um Überredung! Und Rationalität ist auch weniger eine apriorisch existierende Eigenschaft, sondern vor allem ein Begriff, der dem Verfolgen eigener Interessen einen möglichst neutralen und objektiven Anspruch verleihen soll. Es ist jedenfalls kein Zufall, daß Erkenntnisfortschritte empirische Bestätigung brauchen, oder nutzlose gedankliche Übungen bleiben. Das aber entzieht der Philosophie das Mandat, den Wissenschaften die Methoden vorschreiben zu wollen oder zu können. Dazu fehlt ihnen einfach das theoretisch-empirische Wissen. Bleibt nur ihre eigene Welt der Gedanken, in der nur sie selbst der Maßstab für „Gültigkeit“ sind. Dumm nur, daß jeder Philosoph in seiner eigenen Welt lebt, und daher seine eigenen Maßstäbe hat. So gibt es innerhalb der Philosophie für keine Frage eine allgemeinverbindliche Lösung, und jede Generation arbeitet sich an den immer gleichen Fragen ab, auch in diesem Punkt nicht unähnlich der Religion, nur daß die nicht auf das Denken vertraut, sondern gleich auf Glauben. Da ist man zumindest dem Problem der Begründung enthoben. Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
iskander Geschrieben 15. Januar Melden Share Geschrieben 15. Januar vor 12 Stunden schrieb Marcellinus: Nein, nein, und nochmals nein! "Widerlegen von falschen Vorstellungen" geht nicht per Argument! Wenn ich jemanden mit Argumenten überzeugen kann, war er sowieso schon meiner Meinung, oder wir waren eh nicht weit auseinander. Vorstellungen, die man später als "falsch" bezeichnet, scheitern in der Regel daran, daß empirische Tatsachen beobachtet werden, die sich mit der alten Theorie beim besten Willen nicht mehr erklären lassen. Die Theorie, daß die Titanic unsinkbar sei, war erst und endgültig gescheitert, als das Wasser die Bordkapelle verschluckte. Vielleicht reden wir hier aneinander vorbei? Mit "Argument" meine ich in diesem Fall durchaus den Verweis auf empirische Tatsachen - bzw. eine Argumentation, die sich ganz entscheidend auf Tatsachen stützt. Aber mir ging es es darum, dass die Wissenschaft sich in "gültiger" Weise auf Tatsachen stützt. Damit meine ich einfach nur dies: Die Tatsachen, die festgestellt wurden, wurden mit überzeugenden Methoden als tatsächlich existent aufgewiesen, und sie stehen auch tatsächlich im Widerspruch mit der zu widerlegenden Auffassung. Es geht darum, dass das Widerlegen durch Wissenschaft eben "gültig" bzw. "begründet" sein soll, und keine Kaffeesatzleserei. Das meine ich in diesem Zusammenhang auch mit "Rationalität". Zitat Die Methoden sind nicht das Problem. Methoden werden immer dann in feste Formen gegossen, wenn sich in einem Fach eine bestimmte Theorie durchgesetzt hat. Alles gut und recht; aber abgesehen von so ganz offensichtlichen Fällen wie dem Sinken der Titanic beruhen doch ganz viele wissenschaftliche Ergebnisse auf mehr oder weniger anspruchsvollen und ausgeklügelten Forschungs-Methoden und anspruchsvoller Arbeit. Und wenn die Methoden und die Arbeit nicht zu begründeten Ergebnissen führen (in der Sache begründet!), dann helfen die Ergebnisse auch nicht, etwas gültig zu widerlegen. Und dabei spreche ich nicht davon, dass ein widerlegender Beweis jeden überzeugen müsste - das wird nie geschehen - sondern dass er etwas anderes ist als Hokuspokus. Zitat Nur gilt diese "logische Struktur" für richtige wie für falsche Theorien. [...] Richtigkeit ist keine Frage der Logik. Stimmt; aber eine entsprechende "logische Struktur" ist hier zumindest eine notwendige Bedingung für die Wahrheit einer Theorie. (Mir ging es allerdings hier tatsächlich nicht um Logik "für die Wahrheit", sondern darum, dass es überhaupt von Interesse sein kann, sich die die logische Struktur von Gesetzesaussagen - mögen diese wahr oder falsch sein - anzusehen.) Zitat Mit Inhalten schon, nur nicht in erster Linie mit Argumenten. Verargumentieren kann man jeden Blödsinn. Erst das Blitzableiter-Experiment von Benjamin Franklin hat metaphysischen Deutung von Gewittern endgültig den Garaus gemacht. (Na ja, bei "Metaphyisk" denke ich dann doch eher an Aristoteles als an Zeus - und erstgenannter hat versucht, die Blitze natürlich zu erklären. ) Du scheinst mir "Argumente" und "Empirie" in einen Gegensatz zu stellen, so als ginge es mir um "theoretische Argumente". Aber so meine ich das nicht. Es geht natürlich auch und ganz entscheidend um Empirie. Jedoch besitze ich ja nicht allein schon deswegen Kenntnis von der Natur der Blitze, weil es ein Experiment dazu gab - sondern weil ich weiß, dass ein Experiment dazu stattgefunden hat; weil ich weiß, wie es aufgebaut war; weil ich weiß, was sein Ergebnis war; und weil ich seine Bedeutung verstehe (sofern ich nicht einfach anderen Leuten glaube). Ich "habe" nicht ganz unmittelbar das Experiment, sondern ich "habe" mein Wissen und meine Überlegungen, durch welche ich mich auf das Experiment bezieht. Wenn man dieses Wissen bzw. alle relevanten Überlegungen nun in eine sprachliche Form gösse, käme etwas heraus wie "Weil dies und das und auch jenes so und so ist, gilt dann auch, dass..." Und das kann man eben auch als logischen Schluss bzw. als Argument verstehen - natürlich als eines, das ganz entscheidend auf der Beobachtung aufbaut. Mehr meine ich gar nicht. Zitat Auch wieder nein! Erstens haben sich wissenschaftliche Revolutionen, und nur über die reden wir hier, immer nur durchgesetzt, wenn die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen dafür förderlich waren. Die Wissenschaft, die für solche Untersuchungen prädestiniert ist, ist die Soziologie. Die Philosophie hat darin keine Aktien. Dass es bestimmter Rahmenbedingungen bedarf, streite ich gar nicht ab. Aber daneben gibt es doch auch die Geltungsfrage. Überlege mal folgendes: Du diskutierst mit jemandem, der behauptet, dass das Leben in sechs Tagen entstanden sei. Wir nehmen aber einmal an, diese Person sei geistig sehr aufgeschlossen und keinesfalls ein religiöser Fundamentalist. Sie wäre durchaus offen, Neues zu lernen. Nur wäre sie eben, so nehmen wir, an, einfach irgendwo fernab aller Bildung aufgewachsen (oder sie sei in einem Eisblock eingefroren und komme aus der Vergangenheit- es ist ja nur ein Gedankenexperiment). Du sagst nun, dass die Wissenschaft bewiesen habe, dass das nicht stimme. Dann wird Dein Gesprächspartner vielleicht fragen, ob der Beweis denn auch gültig sei. "Gültig" in dem Sinne, dass die (empirischen) Ausgangspunkte, welche die Grundlagen des Beweises bilden, wirklich da sind - und dass man, wenn man von ihnen ausgeht, mit vernünftigem Denken wirklich bei dem Ergebnis landet, dass das Leben nicht in sechs Tagen auf die Welt kam. Anders als bei der Titanic kann man bei einem Beweis dafür, dass das Leben sich über eine längere Zeit entwickelt hat, wird man hier nicht einfach auf eine einzelne Beobachtung verweisen können; vielmehr wird ein entsprechender Beweis ein komplexes Gedankengebäude sein, das viele empirische Tatsachen berücksichtigen, interpretieren und in wechselseitigen Bezug setzen muss. Nur wenn die betreffenden Wissenschaftler an allen entscheidenden Stellen rational vorgehen, wird der Beweis stichhaltig sein. Und die Tatsache, dass bestimmte soziale Prozesse dazu führen mögen, dass Wissenschaftler einen Beweis akzeptieren, bedeutet alleine noch nicht, dass er auch gültig ist - erst recht nicht, wenn irrationale Faktoren für die Akzeptanz ausschlaggebend sind. Falls die beteiligten Wissenschaftler aus den empirischen Daten nur deswegen den Schluss ziehen, dass das Leben sich über eine längere Zeitspanne entwickelt hat, weil es dem Chef so passt, dann sind die so gewonnen Ergebnisse wertlos. Denn dann ist alles auf Sand gebaut. Dann wird auch der geistig aufgeschlossenste Zeitgenosse - und gerade er - den entsprechenden Beweis nicht akzeptieren. Zitat Nur sind das Untersuchungen, die nicht philosophischer sondern wissenssoziologischer Art sind. Seit wann fragt die Wissenssoziologie danach, wieso beispielsweise eine methodische Vorgehensweise, die sich selbst nicht auf Soziales bezieht, rational und für die Klärung der adressierten Phänomene geeignet sind? Ist es nicht eher Aufgabe der Wissenssoziologie, sich mit spezifisch sozialen Aspekten des Wissenserwerbs zu befassen? Zitat "Rationalität" ist nämlich kein apriorischer Zustand und existiert als Eigenschaft so wenig wie "Wahrheit". Um meine Antwort nicht zu lange werden zu lassen: Man kann sicher in vielen Fällen erst im Nachhinein und in der historischen Perspektive sagen, was warum rational war - aber eine Analyse der Rationalität einer bestimmten Vorgehensweise ist ja dennoch eine geltungstheoretische und keine soziologische Frage. Eine soziologische Frage würde beispielsweise lauten, welche sozialen Bedingungen geherrscht haben, so dass eine sinnvolle Methode sich so spät durchgesetzt hat. Zitat Überzeugend widerlegt? Hat es doch bis heute viele nicht! Für Kreationisten ist es bis heute ein Irrglaube (wie der Kreationismus für uns). Die Tatsache, dass nicht jeder einen Beweis akzeptiert, bedeutet allerdings noch nicht, dass er nicht gültig wäre. Ganz zugespitzt: Wenn ein Mensch mit schwerer Psychose sich weigert, den Beweis zu akzeptieren, dass er nicht Napoleon sein kann, heißt das nicht, dass mein Beweis nicht stichhaltig wäre. Der Anspruch, alle zu überzeugen, ist aussichtslos. Daraus folgt aber nicht, dass alles einerlei wäre, und dass dort, wo die Wissenschaft etwas mit sehr viel Sorgfalt sehr überzeugend gezeigt hat, man vernünftigerweise gerade das Gegenteil annehmen könnte. Außerdem ist das doch auch nicht Deine Position, oder? Sonst wäre es, wenn Du Dich in einer Diskussion auf die Wissenschaft berufst, gerade so, als würde sich jemand aufs Kartenlegen berufen. Zitat Aber du kannst wunderbar "rational" sein, und trotzdem im Irrtum. Selbst die meisten Verschwörungstheorien sind "rational" von vorn bis hinter. Nur eben auch falsch. Und ja, es gibt auch Verschwörungstheorien, die sich belegen lassen. Das ist allerdings dann ein etwas fragwürdiger Begriff von "Rationalität" und "Beleg". Ein gültiger Beleg sollte ex definitione in Richtung Wahrheit und nicht in Richtung Falschheit führen. Und innere Konsistenz - was auch gänzlich absurde Verschwörungstheorien haben können - ist zwar eine Bedingung für Rationalität, aber nicht hinreichend. Es bedarf auch einer angemessenen Begründung und ggf. einer glaubhaften Zurückweisung von Gegenargumenten. (Wenn ein Flacherdler meint, auch das liefern zu können, sei ihm das gegönnt. Aber wie gesagt wäre es sinnlos, nur das als bestätigenden Beweis oder Widerlegung gelten zu lassen, was wirklich jeder auch anerkennt.) Zitat Sie ist als Argument wertlos! Das kannst du doch hier ständig beobachten. Sie überzeugt niemanden, der dem Kreationismus anhängt. Sie ist durch Tatsachenbeobachtungen belegt, was man von keinem Kreationismus behaupten kann, aber das ist keine Frage der "Geltung". Für Kreationisten gilt sie nicht! Wie gesagt glaube ich nicht, dass man der Wert eines Argumentes daran messen sollte, ob es jeden überzeugt. Zweitens gibt es ja nur wenige Leute, die glauben, dass alles Leben in sechs Tagen geschaffen wurde. Das behauptet ja nicht einmal die kath. Kirche. (Inwieweit sich Schöpfung darüber hinaus mit Evolution vereinbaren lässt, ist wieder eine andere und komplexere Frage.) Drittens meine ich mit "Geltung" genau das: Man kommt auf Grundlage klar feststellbarer Beobachtungen . und ohne fragliche Annahmen machen zu müssen -, logisch gültig zum Schluss. In diesem Fall eben zum Schluss, dass das Leben sich nicht in nur sechs Tagen entfaltet hat. Mit "gültig" meine ich nichts anderes als gut begründet - und in diesem Fall: empirisch gut begründet. Zitat Ich tue es, und Philosophen tun es auch. Das ist nicht die Frage. Die Frage, die auch du dir stellen solltest, ist, wessen Vorstellungen realistischer sind. Du argumentierst mit "Rationalität", als wenn man nur einer bestimmten Art zu denken folgen müßte, und das Ergebnis wär "gültig". Nein, so einfach ist das natürlich nicht, und so will ich auch nicht klingen. Ich glaube aber dennoch, dass es - um es mal zuzuspitzen - beispielsweise sehr gute Argumente gegen die Annahme gibt, dass die Erde eine Scheibe ist. (Und damit kein Missverständnis aufkommt: Empirisch fundierte Argumente, also Argumente, die zu einem Teil einfach darin bestehen, empirischen Befunde in Worte fassen.) Auch glaube ich nicht, dass das nur eine Mode-Aussage ist und man in hundert Jahren die Erde für eine Scheibe halten wird. Zudem glaube ich auch nicht, dass meine Auffassung, dass die Erde annähernd kugelförmig, auf jeden Fall aber keine Scheibe ist, genauso gut oder schlecht begründet wäre wie die gegenteilige Behauptung. Was natürlich auch heißt, dass ich die jeweiligen Beweise nicht für gleichermaßen "gültig" halte. Mir ist bewusst, dass Flacherdler das anders sehen - das ändert aber nichts an meiner Überzeugung, dass in diesem Fall ich richtig liege. Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
iskander Geschrieben 15. Januar Melden Share Geschrieben 15. Januar (bearbeitet) vor 15 Stunden schrieb Marcellinus: Im Folgenden drei kurze Beispiele, wie Erkenntnisfortschritt stattfindet oder auch nicht. Erst mal dafür danke! Auch allgemeine Zustimmung. vor 15 Stunden schrieb Marcellinus: Das zweite Beispiel zeigt, daß auch eine so alte und ehrwürdige Naturwissenschaft wie die Physik auf Abwege geraten und zur Metaphysik verkommen kann, wenn „man beim Nachdenken über eine Sache dem Denken selbst den Vorrang vor der Sache gibt“, wie Rolf Hellmut Foerster so treffend formuliert hat. Wo empirische Daten fehlen, hört theoretisch-empirische Wissenschaft auf. Da helfen auch nicht die Denkschulen der Philosophie, die doch für sich in Anspruch nehmen, ausgehend von ihren jeweiligen Prämissen zu gültigen Schlüssen kommen zu können. Das dritte Beispiel zeigt, daß das nicht einmal auf ihrem ureigenen Gebiet gilt, der Welt der reinen Gedanken. Aus meiner Sicht ist ein Knackpunkt, dass Du zu meinen scheinst, dass die Philosophie versuchen würde, mithilfe reiner Spekulationen und mithilfe von logischen Ableitungen "aus dem nichts" Fragen zu beantworten, die man entweder nur empirisch beantworten kann oder gar nicht. Das wäre aus meiner Perspektive aber gerade ein Beispiel für ganz schlechte Philosophie. Es gibt aber andererseits durchaus Fragestellungen, die eben nicht einfach durch ein Experiment beantwortbar sind, und zu denen man dennoch etwas Sinnvolles sagen kann. Das betrifft einen Großteil der jetzigen Diskussion. Wie etwa das Verhältnis von Wissenschaft und Logik ist, ist eben keine rein empirische Frage, auch keine sozialwissenschaftliche. Wie ich schon sagte: Die Befragung eines Wissenschaftlers, welche Rolle die Logik für ihn spielt, wäre kein zwingender Beweis für etwas. vor 15 Stunden schrieb Marcellinus: Es ging nicht um „Wahrheit“, sondern um Überredung! Vielleicht sollten sich die Philosophen, die sich doch so viel auf Logik und Rationalität zugute halten, daran erinnern, daß Logik ursprünglich im Altertum entwickelt wurde, um Anwälten ein Mittel an die Hand zu geben, in öffentlichen Rechtsangelegenheiten auf dem Forum die Interessen ihrer Klienten möglichst wirkungsvoll zu vertreten. Logik ist fast schon die Essenz unseres Denkens - lange, bevor ein logisches System erfunden wurde. Darauf will ich noch gesondert eingehen. Zuerst haben die Sophisten sich zielgerichtet mit Logik auseinandergesetzt, aber dann hat bald schon Aristoteles die Sache systematisch bearbeitet und gültige von Trugschlüssen bearbeitet. Indes gibt es fast nie einen Streit um die formale logische Gültigkeit eines Argumentes. Es ist fast immer ein Streit um die Prämissen. Jedenfalls findet sich überall Logik, im Alltag wie in der Naturwissenschaft. Zitat Und Rationalität ist auch weniger eine apriorisch existierende Eigenschaft, sondern vor allem ein Begriff, der dem Verfolgen eigener Interessen einen möglichst neutralen und objektiven Anspruch verleihen soll. In welchem Umfang apriorisch und in welchem nicht, ist hier eine nachgeordnete Frage. Aber nochmals: Wir wollen doch beide nicht behauten, dass es nicht auch solide Wissenschaft gebe, und dass jemand, der sich auf solch solide Formen der Wissenschaft beruft, nichts anderes tue, als jemand, der sich auf seinen Kaffeesatz stützt? vor 15 Stunden schrieb Marcellinus: Es ist jedenfalls kein Zufall, daß Erkenntnisfortschritte empirische Bestätigung brauchen, oder nutzlose gedankliche Übungen bleiben. Nochmals: Ein Großteil der Behauptungen, die in dieser Diskussion aufgestellt werden, auch von Deiner Seite, sind nicht empirisch prüfbar. Bereits eben diese gerade Aussage ist nicht empirisch prüfbar. Weder ist sie empirisch beweisbar noch empirisch widerlegbar. Dennoch hältst Du sie offenbar nicht für nutzlos. Zitat Das aber entzieht der Philosophie das Mandat, den Wissenschaften die Methoden vorschreiben zu wollen oder zu können. Wer will das denn? Vielleicht ist das noch bei Popper (der übrigens bei Wissenschaftlern sehr beliebt ist) ein Stück weit so gewesen. Aber im allgemeinen versucht die Wissenschaftsphilosophie doch eher, sich anzusehen, wie die Wissenschaften tatsächlich arbeiten, um zu sehen, wieso ihre Ergebnisse begründet sind, soweit diese eben begründet sind. Zitat Dazu fehlt ihnen einfach das theoretisch-empirische Wissen. Bleibt nur ihre eigene Welt der Gedanken, in der nur sie selbst der Maßstab für „Gültigkeit“ sind. Dumm nur, daß jeder Philosoph in seiner eigenen Welt lebt, und daher seine eigenen Maßstäbe hat. Man muss nicht zwingend ein Fachwissenschaftler ein, um beispielsweise zu beschreiben, was semantisch und logisch passiert, wenn eine Theorie auf eine andere reduziert wird. Und bei vielen Fragen gibt es doch auch eine Konvergenz. Beispielsweise gibt es heute praktisch keinen logischen Empirismus mehr. Und auch in den empirischen Wissenschaften gibt es doch oft Kontroversen. Du bist einfach so sehr in dieser verzerrten Vorstellung gefangen, dass Du sie eben immer wiederholst, und dass man mit allen Erläuterungen nicht dagegen ankommt. Vergiss zudem eines nicht: "Gültige Gedanken", die sich empirisch nicht prüfen lassen, braucht auch der Naturwissenschaftler - auch um etwas zu widerlegen. Denn Fakten allein ergeben nie etwas. Und man könnte beispielsweise auch das geozentrische Weltbild verteidigen, ohne in irgendeinen Konflikt mit empirischen Beobachtungen zu geraten. Man muss dazu nur beherzt genügend gewagte "Ad-hoc-Einnahmen" einführen: Unter anderem beispielsweise, dass das Licht, das zu uns von den Sternen kommt, durch eine noch unbekannte Kraft genau so verzerrt wird, dass es auf der Erde so erscheint, als existiere eine Sternparallaxe. Dass das unsinnig ist (auch wenn man es nicht völlig ausschließen kann) muss man einsehen - man kann es nicht empirisch prüfen. Natürlich mag man sagen, dass die Gültigkeit wissenschaftlicher Gedanken in vielen Fällen einfacher einzusehen sei als die philosophischer Gedanken, oder dass es bei wissenschaftlichen Gedanken zumindest mehr Konsens gibt. Aber das ist nicht mein Punkt. Mir geht es darum, dass man nirgendwo darum herumkommt, "gültige Gedanken" anzusetzen - auch nicht, wenn man etwas begründet auf empirischer Basis widerlegen möchte. Und dass es stichhaltige empirische Widerlegungen gibt, akzeptieren wir doch beide - auch wenn wir natürlich wissen, dass man selbst mit der überzeugendsten Widerlegung nicht jeden beeindrucken kann. bearbeitet 15. Januar von iskander Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
iskander Geschrieben 16. Januar Melden Share Geschrieben 16. Januar @Marcellinus Da wir ja doch etwas auf der Stelle zu treten scheinen, und das ich den Eindruck habe, dass wir schon dort, wo es um sehr grundlegende Dinge geht (Rolle von Logik, Beweisen, Beobachtung usw.) unterschiedliche Sichtweisen haben, habe ich mir gedacht, dass es vielleicht sinnvoll sein könnte, erst einmal auf dieses "Grundlegende" einzugehen und zu schauen, ob wir uns dort vielleicht inhaltlich näherkommen. Aus diesem Grund habe ich den folgenden Beitrag hier verfasst. Vielleicht kannst Du dort sagen, ob Du das von mir Ausgeführte akzeptieren kannst - und falls nicht, was nicht und warum nicht. Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
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