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42 und die Frage nach Marcellinus’ Weltbild


Marcellinus

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4 hours ago, Marcellinus said:

Erstens, wenn eine Theorie falsch ist, ist sie falsch. Punkt.

Zweitens, ob eine Idee "der Wahrheit näherkommt", kann man nur beurteilen, wenn man die Wahrheit kennt. Ebenfalls Punkt. 

 

Was man sagen kann, ist, ob eine Theorie besser, realistischer als die vorhergehende war. Das kommt nämlich ohne apriori aus, ohne die Annahme von etwas, was man nicht wissen kann. Ausgangspunkt ist die alte Theorie (in meinem Beispiel oben die Miasmentheorie). Die hat sich als falsch erwiesen, weil sich herausgestellt hat, das der Gestank nicht Ursache der Krankheiten war, sondern nur eine gelegentliche Begleiterscheinung. Damit verschwand die Krankheitsursache nur dann, wenn mit dem Gestank auch die Ursache beseitigt wurde, in dem Falle das Trockenlegen des Sumpfes, was den Mücken den Garaus machte. Der eigentlich realistische Gehalt der Miasmentheorie war seinen Anwendern nämlich nicht bekannt. Das ist häufig so bei vorwissenschaftlichen Theorien; sie funktionieren, obwohl seine Anwender sie nicht genau durchschauen. 

 

Erst als die Menschen begriffen, daß im Wasser etwas sein mußte, was krank macht, auch wenn sie noch nicht wußten, was es war, hatten sie ein Modell, daß gegenüber der Miasmentheorie ein echter Fortschritt war, und zwar ohne das man hätte sagen können, wie die "Wahrheit" aussehen würde. Insofern wäre es Unsinn gewesen, von einer Annäherung an "die Wahrheit" zu sprechen. Entscheidend war und ist nur das "Besser", der Komparativ. Das ist es, was ich sagen wollte. 

 

Das ist der einzige Punkt, den ich nicht nachvollziehen kann:

 

Was ist der Unterschied zwischen "realistischer" und "näher an der Wahrheit"?

 

Ich würde sagen, das ist per Definition dasselbe und wie Dein Beispiel zeigt, muss man dafür "die Wahrheit", also eine hypothetische perfekte Theorie, doch gerade nicht kennen.

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vor einer Stunde schrieb KevinF:
vor 5 Stunden schrieb Marcellinus:

Erst als die Menschen begriffen, daß im Wasser etwas sein mußte, was krank macht, auch wenn sie noch nicht wußten, was es war, hatten sie ein Modell, daß gegenüber der Miasmentheorie ein echter Fortschritt war, und zwar ohne das man hätte sagen können, wie die "Wahrheit" aussehen würde. Insofern wäre es Unsinn gewesen, von einer Annäherung an "die Wahrheit" zu sprechen. Entscheidend war und ist nur das "Besser", der Komparativ. Das ist es, was ich sagen wollte. 

 

Das ist der einzige Punkt, den ich nicht nachvollziehen kann:

 

Was ist der Unterschied zwischen "realistischer" und "näher an der Wahrheit"?

 

Ich würde sagen, das ist per Definition dasselbe und wie Dein Beispiel zeigt, muss man dafür "die Wahrheit", also eine hypothetische perfekte Theorie, doch gerade nicht kennen.

 

Es ist eine Frage des Konzepts, idealistisch vs realistisch, würde ich sagen. "Näher an der Wahrheit" ist ein Konzept, das suggeriert, "die Wahrheit" gäbe es irgendwo (Platons Welt der Ideen?), und es sei das Ziel menschlicher Erkenntnis, sich dieser idealen Idee immer weiter anzunähern.

 

"Realistischer", "besser als das vorhergehende" ist ein Konzept, das Ideen, Modelle als das nimmt, was sie sind, als von Menschen geschaffene gedankliche Werkzeuge, die sich im Laufe der Zeit weiterentwickeln. nicht auf ein Ziel zu, sondern von einem Ursprung weg. Es ist einfach die genau entgegengesetzte Richtung, so wie jede Entwicklung im Universum läuft, strukturiert, aber ohne ein vorher feststehendes Ziel. 

 

bearbeitet von Marcellinus
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vor 6 Stunden schrieb Marcellinus:

Was man sagen kann, ist, ob eine Theorie besser, realistischer als die vorhergehende war.

 

"Realistischer" bedeutet aber doch nichts anderes, als dass ein Modell besser der Realität entspricht als ein anderes.

Wir wissen zwar auch heute nicht alles über die Erdoberfläche und mögen uns auch in dem einen oder anderen Punkt irren - aber dennoch wage ich die Behauptung, dass eine sorgfältig erstellte Weltkarte der Wirklichkeit in höherem Maße gerecht wird als eine Weltkarte aus dem frühen Mittelalter.

 

Wenn man die übliche Wahrheitsdefinition nimmt - Entsprechung von Aussage und Sachverhalt - könnte man somit auch sagen, dass die eine Theorie der Wahrheit eher gerecht wird als die andere (selbst wenn beide streng logisch betrachtet falsch sind, weil ja auch eine geringfügige Abweichung von der Wahrheit eine Aussagen falsch macht).

 

Zitat

 

Ich sag mal ganz ehrlich: Was Logiker als "fatal" empfinden, ist mir ziemlich egal, denn Logik ist im theoretisch-empirischen Forschungsprozeß eh nur ein Hilfsmittel, kein Mittel der Erkenntnis.

 

 

Auch die Wissenschaft braucht die Logik auf Schritt und Tritt. Ohne Logik käme sie keinen Millimeter voran. Es gäbe beispielsweise weder Vorhersagen aus Theorien noch Bestätigungen noch Widerlegungen.

Wenn ein Wissenschaftler etwa sieht, dass die Lampe nicht aufleuchtet, wenn er einen Stromkreislauf mit einem Stück Glas kurzzuschließen versucht, dann sieht er nicht, dass Glas keinen Strom leitet. Er sieht nur, dass keine Lampe aufleuchtet - mehr nicht. Dass dieses Stück Glas keinen Strom leitet, schlussfolgert er aus seiner Beobachtung vom fehlenden Aufleuchten der Lampe zusammen mit seinem Wissen über elektrischen Strom, über den Versuchsaufbau usw. Und dass die fehlende Leitfähigkeit nicht nur für die 20 Glasstücke gilt, die er untersucht hat, sondern für Glas im allgemeinen, ist wiederum ein induktiver Schluss.

Und das wäre jetzt nur ein Beispiel.

 

Man muss aber gar nicht mal bis zur Wissenschaft gehen. Es wäre nicht nur für den Logiker, sondern für uns alle fatal, wenn wir nicht davon ausgehen könnten, dass das, was der Fall ist, auch tatsächlich der Fall ist. Dass also beispielsweise dann, wenn Du einen Beitrag im Forum verfasst hast, Du tatsächlich einen Beitrag hier im Forum verfasst hast. Oder dass ein Wort bedeutet, was es bedeutet, und nicht etwa das Gegenteil. Jedes sinnvolle Sprechen und Denken setzt die Prinzipien der Logik voraus.

 

Zitat

Philosophen im allgemeinen und Logiker im besonderen sind im Wissenschaftsprozeß längst nicht mehr Akteure, sondern eher wie die grantelnden Alten auf der Empore. ;)

 

Das waren sie ja auch nie im eigentlichen Sinne. Dass man den Begriff "Philosophie" in einer anderen, weiteren Bedeutung verwendet hat, steht dem nicht entgegen. Es ist auch nicht die Aufgabe der Logik oder der Philosophie, empirische Wissenschaft zu betreiben.

 

Abgesehen von diesen Dingen frage ich mich allerdings, ob Du nicht Wahrheit mit "umfassender Wahrheit" verwechselst. Selbst wenn wir beispielsweise nur diejenigen Erkenntnisse über das Römerreich nehmen, von denen wir uns extrem sicher sein können, dass sie tatsächlich zutreffen (und alles andere einklammern), wissen wir doch einiges. Und das sind dann doch mehr als Banalitäten, die jede Kind erraten könnte. Und das gleiche gilt auch für ganz andere Themenbereiche, von der Mikrobiologie bis zur Aerodynamik.

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vor 25 Minuten schrieb iskander:
vor 7 Stunden schrieb Marcellinus:

Was man sagen kann, ist, ob eine Theorie besser, realistischer als die vorhergehende war.

 

"Realistischer" bedeutet aber doch nichts anderes, als dass ein Modell besser der Realität entspricht als ein anderes.

Wir wissen zwar auch heute nicht alles über die Erdoberfläche und mögen uns auch in dem einen oder anderen Punkt irren - aber dennoch wage ich die Behauptung, dass eine sorgfältig erstellte Weltkarte der Wirklichkeit in höherem Maße gerecht wird als eine Weltkarte aus dem frühen Mittelalter.

 

Und warum läßt du es dann nicht dabei? Was spricht gegen die Aussage: "Unsere heutige Weltkarte ist realistischer als die des Mittelalters"? Denn das ist es, was wir durch Tatsachenbeobachtungen belegen können. Was wir dagegen nicht belegen können, ist, daß wir schon alles über die Erdoberfläche wissen. Ich denke nur an den Teil der Erdoberfläche, der unter den Ozeanen liegt. 

 

vor 25 Minuten schrieb iskander:

Wenn man die übliche Wahrheitsdefinition nimmt - Entsprechung von Aussage und Sachverhalt - könnte man somit auch sagen, dass die eine Theorie der Wahrheit eher gerecht wird als die andere (selbst wenn beide streng logisch betrachtet falsch sind, weil ja auch eine geringfügige Abweichung von der Wahrheit eine Aussagen falsch macht).

 

Du selbst weißt, und du schreibst es hier ja auch, daß "Wahrheit" ein Begriff ist für Vollständigkeit und Endgültigkeit. Unser Wissen ist aber nie vollständig oder entgültig, und selbst wo es das schon zu sein scheint, können wir vor Überraschungen nie sicher sein. Was kann da das Bestehen auf dem Begriff "Wahrheit", noch dazu so verwässert, wie du ihn verwendest, etwas anderes sein als eine Illusion von Gewißheit, an die du dich wider besseres Wissen klammerst. 

 

"Wahrheit" ist zu einem illusionären Symbol geworden, ähnlich dem Begriff "Gott". Zwar sind beide längst aller ihrer ursprünglichen Attribute entkleidet, aber auf den Begriff mag man offenbar nicht verzichten. 

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2 hours ago, Marcellinus said:

 

Es ist eine Frage des Konzepts, idealistisch vs realistisch, würde ich sagen. "Näher an der Wahrheit" ist ein Konzept, das suggeriert, "die Wahrheit" gäbe es irgendwo (Platons Welt der Ideen?), und es sei das Ziel menschlicher Erkenntnis, sich dieser idealen Idee immer weiter anzunähern.

 

"Realistischer", "besser als das vorhergehende" ist ein Konzept, das Ideen, Modelle als das nimmt, was sie sind, als von Menschen geschaffene gedankliche Werkzeuge, die sich im Laufe der Zeit weiterentwickeln. nicht auf ein Ziel zu, sondern von einem Ursprung weg. Es ist einfach die genau entgegengesetzte Richtung, so wie jede Entwicklung im Universum läuft, strukturiert, aber ohne ein vorher feststehendes Ziel. 

 

 

Die Richtung ist ja dieselbe:

Hin zu einer besseren Entsprechung zwischen Theorie und Wirklichkeit.

 

Ansonsten okay. Aber das ist doch im wesentlichen nur Semantik?

 

Darum kann ich auch den Streit zwischen Dir und @iskander nicht ganz nachvollziehen:

 

Ihr sagt doch dasselbe, nur in etwas anderen Worten?

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vor 6 Minuten schrieb KevinF:

Ihr sagt doch dasselbe, nur in etwas anderen Worten?

 

Aus meiner Sicht nicht. Er fügt einer an sich einvernehmlichen Sicht etwas hinzu, was  nicht nur überflüssig ist, sondern auch einen falschen Eindruck erweckt.

 

Wenn man weiß, daß unsere Vorstellungen von dieser Welt immer unvollständig bleiben, und sich auch nicht einem beschreibbaren Endzustand annähern, sollten wir keinen Begriff verwenden, den der „Wahrheit“ nämlich, der wie kein anderer für genau diese Endgültigkeit und das Endziel der Erkenntnis steht. 

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Religiöse Schöpfungsgeschichten erzählen uns, diese Welt sei von einem übermenschlichen Wesen in voller Absicht und mit einem bestimmten Plan zielbewußt geschaffen worden. 

 

Wir wissen, daß sich diese Welt aus einfachen Strukturen zu immer komplexeren entwickelt hat, in einem Prozeß, der zwar strukturiert ist (sonst könnten wir ihn nicht in Modellen beschreiben), aber ungeplant und ziellos.

 

Wie wäre es, wenn wir diesen ziel- und absichtslosen Prozeß trotzdem „Gottes Schöpfung“ nennen, obwohl dieser Begriff „Gott“ doch für alles steht, was wir nicht sagen wollen?

 

bearbeitet von Marcellinus
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vor 4 Stunden schrieb KevinF:

 

Das ist der einzige Punkt, den ich nicht nachvollziehen kann:

 

Was ist der Unterschied zwischen "realistischer" und "näher an der Wahrheit"?

 

Ich würde sagen, das ist per Definition dasselbe und wie Dein Beispiel zeigt, muss man dafür "die Wahrheit", also eine hypothetische perfekte Theorie, doch gerade nicht kennen.

 

Das hatte ich irgendwie übersehen, und auch die Antwort von Marcellinus, aber das sehe ich wie gesagt genauso.

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vor 1 Stunde schrieb Marcellinus:

Du selbst weißt, und du schreibst es hier ja auch, daß "Wahrheit" ein Begriff ist für Vollständigkeit und Endgültigkeit.

 

Das mag man so ausdrücken; aber das gleiche gilt doch auch für "Realität" (von diesem Begriff leitet sich das das Adjektiv "realistisch" ab). Kennen wir die gesamte Realität? Noch dazu mit absoluter Gewissheit? Nein. So wenig wie "die ganze Wahrheit".

 

Aber es bei einer "Annäherung an die Wahrheit" geht es ja nicht darum, dass unser Wissen selbst vollständig oder endgültig wäre - so wenig wie bei einer "Annäherung an die Realität". Ich glaube, dass das in der Tat nur semantische Unterschiede sind.

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vor 27 Minuten schrieb iskander:
vor 2 Stunden schrieb Marcellinus:

Du selbst weißt, und du schreibst es hier ja auch, daß "Wahrheit" ein Begriff ist für Vollständigkeit und Endgültigkeit.

 

Das mag man so ausdrücken; aber das gleiche gilt doch auch für "Realität" (von diesem Begriff leitet sich das das Adjektiv "realistisch" ab). Kennen wir die gesamte Realität? Noch dazu mit absoluter Gewissheit? Nein. So wenig wie "die ganze Wahrheit".

 

Aber du hast auch bemerkt, daß ich "realistisch" in seiner Vergleichsform "realistischer" verwende? Und daß ich nirgendwo von der "gesamten Realität in absoluter Gewißheit" schreibe, sondern daß du das hinzugefügt hast? Vielmehr weise ich immer wieder auf den Unterschied hin zwischen unseren Modellen der Wirklichkeit und der Wirklichkeit selbst. Ode wie ich immer wieder gern zitiere: 

 

Es gibt die Wirklichkeit, aber wir waren noch nie da, noch nicht einmal auf Besuch.

 

vor 27 Minuten schrieb iskander:

Ich glaube, dass das in der Tat nur semantische Unterschiede sind.

 

Ich dagegen denke, daß du Semantik verwendest, um Unterschiede zwischen unseren Auffassungen zu verwischen. 

bearbeitet von Marcellinus
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@Marcellinus

 

Bevor wir aneinander vorbeireden, diese Frage: Wenn Du sagst, dass Modell A realistischer ist als Modell B, was meinst Du damit? Wie "definierst" Du den Begriff "realistischer"? Ich meine, anhand Deiner Beispiele zu verstehen, was Du meinst, aber vielleicht kannst Du den Begriff selbst explizieren.

bearbeitet von iskander
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vor 16 Minuten schrieb iskander:

@Marcellinus

 

Bevor wir aneinander vorbeireden, diese Frage: Wenn Du sagst, dass Modell A realistischer ist als Modell B, was meinst Du damit? Wie "definierst" Du den Begriff "realistischer"? Ich meine, anhand Deiner Beispiele zu verstehen, was Du meinst, aber vielleicht kannst Du den Begriff selbst explizieren.

 

Ich halte das wie du für eine wichtige Frage. Ich denke, du bekommst morgen eine Antwort. ;)

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vor 11 Stunden schrieb Marcellinus:

 

Ich halte das wie du für eine wichtige Frage. Ich denke, du bekommst morgen eine Antwort. ;)

 

Okay, dankeschön. ;) Lass Dir aber von meiner Seite aus gerne die Zeit, die Du benötigst, ohne Dich irgendwie zu hetzen.

 

vor 12 Stunden schrieb Marcellinus:

Es gibt die Wirklichkeit, aber wir waren noch nie da, noch nicht einmal auf Besuch.

 

Dazu würde mich nochmals geltend machen, dass auch ein unvollständiges Wissen, von dem man weiß, dass es unvollständig ist und es als solches akzeptiert, substantielles Wissen sein kann. Wie ich schrieb:

 

"Selbst wenn wir beispielsweise nur diejenigen Erkenntnisse über das Römerreich nehmen, von denen wir uns extrem sicher sein können, dass sie tatsächlich zutreffen (und alles andere einklammern), wissen wir doch einiges. Und das sind dann doch mehr als Banalitäten, die jede Kind erraten könnte. Und das gleiche gilt auch für ganz andere Themenbereiche, von der Mikrobiologie bis zur Aerodynamik."

 

Haben wir damit nicht über Teilbereiche der Wirklichkeit zumindest "besucht"?

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Was bedeutet „realistischer“ in den Wissenschaften?

 

Theorien in den theoretisch-empirischen Wissenschaften sind Modelle beobachtbarer Zusammenhänge. „Realistischer“ bedeutet da ganz allgemein, daß eine Theorie besser zu den beobachtbaren Tatsachen paßt als ihr Vorgänger.

 

In der Physik kann das bedeuten, daß sich Planetenbahnen genauer berechnen und sogar vorhersagen lassen. In der Biologie kann besser bedeuten, daß ein Modell besser beschreibt, wie sich Arten entwickelt haben. Und in den Geschichtswissenschaften kann eine neue Grabung ein ganzes Narrativ Makulatur werden lassen.

 

Ein Beispiel aus der Physik ist die allgemeine Relativitätstheorie, die mit der Theorie der Raumkrümmung zu erklären versuchte, warum Licht sich im Raum nicht immer linear verbreitet, ein Effekt, der 1916 während einer Sonnenfinsternis experimentell bestätigt wurde.

 

Das eindrucksvollste Beispiel aus der Biologie sind die Forschungsreisen von Darwin und Wallace, die unabhängig voneinander die Evolutionstheorie entwickelten, um die Entstehung von Arten in der Südsee (und nicht nur dort) zu erklären.

 

Schließlich noch ein Beispiel aus der Altertumsforschung, hier die lange Zeit vorherrschende Erzählung, nach der Niederlage des Varus in der Schlacht im Teutoburger Wald hätten sich die Römer endgültig hinter den Rhein zurückgezogen, und auf Eroberungen oder Expeditionen ins „freie“ Germanien verzichtet. Diese Erzählung scheiterte eindrucksvoll mit der Entdeckung von Überresten am Harzhorn, die auf eine von den Römern gewonnen Schlacht weit in Germanien um die Mitte des 3. Jh. hinwies. Auch dies hat zu einer realistischeren Darstellung geführt.

 

Jedesmal geht es darum, Modelle zu entwerfen, wie die beobachtbaren Tatsachen nachprüfbar zusammenhängen könnten. „Besser“, „realistischer“ sind solche Modelle, wenn sie besser zu den Beobachtungen passen. Eine Entsprechung von Modell und Wirklichkeit gibt dagegen kaum; dazu sind unsere Beobachtungen zu ungenau, lückenhaft und unvollständig.

 

Dann gibt es noch einen zweiten Aspekt. Gelegentlich erfahren wissenschaftliche Erkenntnisse früher oder später ein praktische Umsetzung. „Realistischer“ bedeutet eben auch, daß wir mit der Wirklichkeit, die uns umgibt, und von der wir ein Teil sind, besser und erfolgreicher zurecht kommen.

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vor einer Stunde schrieb iskander:

Dazu würde mich nochmals geltend machen, dass auch ein unvollständiges Wissen, von dem man weiß, dass es unvollständig ist und es als solches akzeptiert, substantielles Wissen sein kann. Wie ich schrieb:

 

"Selbst wenn wir beispielsweise nur diejenigen Erkenntnisse über das Römerreich nehmen, von denen wir uns extrem sicher sein können, dass sie tatsächlich zutreffen (und alles andere einklammern), wissen wir doch einiges. Und das sind dann doch mehr als Banalitäten, die jede Kind erraten könnte. Und das gleiche gilt auch für ganz andere Themenbereiche, von der Mikrobiologie bis zur Aerodynamik."

 

Haben wir damit nicht über Teilbereiche der Wirklichkeit zumindest "besucht"?

 

Natürlich wissen wir einiges, und auch einiges mehr als früher, aber das Bild, das wir uns davon machen, ist in der Regel eher fantastisch als realistisch. Stell dir nur einen Augenblick vor, du könntest in die Antike "reisen" (der Traum jedes Archäologen und Historikers). Ich denke, was du da sähest, schaute erheblich anders aus als jede unserer Vorstellungen. Oder nimm die Dinosaurier, von denen jeder von uns schon viele Bilder gesehen hat. Die realen Tiere würden wir vermutlich kaum wiedererkennen. 

 

Überall dort, wo unser Wissen zugegebenermaßen lückenhaft ist, füllen wir diese mit Hilfe unserer Fantasie zu einem Bild auf, das unserem Gehirn vollständig vorkommt. Und das gilt in erstaunlichem Maße auch für die Wirklichkeit, in der wir leben, und von der wir ein Teil sind. Die Wirklichkeit ist einfach zu komplex für unser Gehirn. Also vereinfacht es. Die Unmittelbarkeit, mir der unser Gehirn diese Bilder liefert, verwechseln wir dann mit der Wirklichkeit selbst. Das ist gut für's Überleben. Nicht für die Erkenntnis. 

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On 9/14/2024 at 9:36 PM, Marcellinus said:

 

Aus meiner Sicht nicht. Er fügt einer an sich einvernehmlichen Sicht etwas hinzu, was  nicht nur überflüssig ist, sondern auch einen falschen Eindruck erweckt.

 

Wenn man weiß, daß unsere Vorstellungen von dieser Welt immer unvollständig bleiben, und sich auch nicht einem beschreibbaren Endzustand annähern, sollten wir keinen Begriff verwenden, den der „Wahrheit“ nämlich, der wie kein anderer für genau diese Endgültigkeit und das Endziel der Erkenntnis steht. 

 

Also, falls ich den Begriff der "Wahrheit" hier im Forum je in aus Deiner Sicht unangemessener Weise verwenden sollte, kannst Du mich gerne darauf hinweisen.

 

Bis dahin gehe ich davon aus, dass wir keinen Dissens in dieser Sache haben.

 

Worüber haben wir uns dann eigentlich gestritten vor ein paar Jahren?

 

Kann ich nicht mehr nachvollziehen.

 

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vor 33 Minuten schrieb KevinF:
Am 14.9.2024 um 21:36 schrieb Marcellinus:

Aus meiner Sicht nicht. Er fügt einer an sich einvernehmlichen Sicht etwas hinzu, was  nicht nur überflüssig ist, sondern auch einen falschen Eindruck erweckt.

 

Wenn man weiß, daß unsere Vorstellungen von dieser Welt immer unvollständig bleiben, und sich auch nicht einem beschreibbaren Endzustand annähern, sollten wir keinen Begriff verwenden, den der „Wahrheit“ nämlich, der wie kein anderer für genau diese Endgültigkeit und das Endziel der Erkenntnis steht. 

 

Also, falls ich den Begriff der "Wahrheit" hier im Forum je in aus Deiner Sicht unangemessener Weise verwenden sollte, kannst Du mich gerne darauf hinweisen.

 

Bis dahin gehe ich davon aus, dass wir keinen Dissens in dieser Sache haben.

 

Worüber haben wir uns dann eigentlich gestritten vor ein paar Jahren?

 

Kann ich nicht mehr nachvollziehen.

 

Ach weißt du, zum Sprachpolizisten habe ich weder die Befugnis noch die Neigung. Mir reicht es schon, wenn ich meinen Sprachgebrauch offenbar verständlich machen konnte. ;)

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@KevinF

Den Begriff "Wahrheit" vermeide ich aber auch noch aus einem anderen Grund. Er ist, wie kaum ein anderer, ein statischer Begriff. Er symbolisiert einen Zustand, sogar einen Endzustand. Erkenntnis und Wissensfortschritt aber ist ein sozialer Prozeß, und auch nur als ein solcher zu verstehen. 

 

Wenn wir also versuchen, zu verstehen, wie unser Wissen entstanden ist, dann müssen wir uns diesen sozialen Prozeß des Wissenserwerbs ansehen, von vorwissenschaftlichen Formen des Wissens (die den überwiegenden Teil unserer Geschichte ausmachen) zu wissenschaftlichen Formen.

 

Das alles ist mit statischen Begriffen nicht zu leisten. Statt "das ist" oder "das ist nicht" braucht man also Begriffe, die ein Entwicklung beschreiben, also etwas, was "geworden ist". Und dann sind wir schnell bei Formulierungen wie "vorher, nachher", "mehr oder weniger", "besser oder schlechter", nicht mehr absoluten Begriffen, sondern solchen, die Vergleiche herstellen und Entwicklungen beschreiben.

 

Wenn man dem philosophischen Konzept der Wahrheit folgt, gibt es eigentlich nur wahr oder falsch, und alle vergangenen Konzepte fallen in die Kategorie "falsch". Aber das wird ihnen meistens nicht gerecht, denn sie waren die notwendigen Vorstufen zu unserem heutigen Wissen. 

 

Das ist es eigentlich, worum es, im Unterschied zu einer philosophischen Erkenntnistheorie, bei einer soziologischen Wissenstheorie geht, nicht wie die menschliches Wissen aus Sicht der Philosophie sein sollte, sondern wie es sich empirisch nachprüfbar entwickelt hat. 

 

bearbeitet von Marcellinus
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19 hours ago, Marcellinus said:

@KevinF

Den Begriff "Wahrheit" vermeide ich aber auch noch aus einem anderen Grund. Er ist, wie kaum ein anderer, ein statischer Begriff. Er symbolisiert einen Zustand, sogar einen Endzustand. Erkenntnis und Wissensfortschritt aber ist ein sozialer Prozeß, und auch nur als ein solcher zu verstehen. 

 

Wenn wir also versuchen, zu verstehen, wie unser Wissen entstanden ist, dann müssen wir uns diesen sozialen Prozeß des Wissenserwerbs ansehen, von vorwissenschaftlichen Formen des Wissens (die den überwiegenden Teil unserer Geschichte ausmachen) zu wissenschaftlichen Formen.

 

Das alles ist mit statischen Begriffen nicht zu leisten. Statt "das ist" oder "das ist nicht" braucht man also Begriffe, die ein Entwicklung beschreiben, also etwas, was "geworden ist". Und dann sind wir schnell bei Formulierungen wie "vorher, nachher", "mehr oder weniger", "besser oder schlechter", nicht mehr absoluten Begriffen, sondern solchen, die Vergleiche herstellen und Entwicklungen beschreiben.

 

Wenn man dem philosophischen Konzept der Wahrheit folgt, gibt es eigentlich nur wahr oder falsch, und alle vergangenen Konzepte fallen in die Kategorie "falsch". Aber das wird ihnen meistens nicht gerecht, denn sie waren die notwendigen Vorstufen zu unserem heutigen Wissen. 

 

Das ist es eigentlich, worum es, im Unterschied zu einer philosophischen Erkenntnistheorie, bei einer soziologischen Wissenstheorie geht, nicht wie die menschliches Wissen aus Sicht der Philosophie sein sollte, sondern wie es sich empirisch nachprüfbar entwickelt hat. 

 

 

Okay, aber ich sehe immer noch nicht, dass ich meinen Sprachgebrauch bezüglich "Wahrheit" (im Sinne der Entsprechung zwischen Aussage und Sachverhalt) irgendwie verändern müsste.

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vor 23 Minuten schrieb KevinF:

Okay, aber ich sehe immer noch nicht, dass ich meinen Sprachgebrauch bezüglich "Wahrheit" (im Sinne der Entsprechung zwischen Aussage und Sachverhalt) irgendwie verändern müsste.

 

Nein, mußt du natürlich nicht. 

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@Marcellinus

 

Ich kann Deine grundsätzliche Position durchaus nachvollziehen und teile sie der Sache nach, soweit wir über empirische Wissenschaft sprechen, wohl auch in vielem (davon ausgehend, dass ich sie richtig verstehe).

 

Aber die "Wahrheit" im Hinblick auf eine bestimmte Wirklichkeit wäre, wenn man die üblichen Definitionen zugrundelegt, sozusagen der Inbegriff aller (potentieller) wahrer Aussagen über den entsprechenden Bereich dieser Wirklichkeit. Die Wahrheit über die Dinosaurier etwa bestünde demnach in der Gesamtheit aller wahren und informativen Aussagen über die Dinosaurier, die es prinzipiell gibt oder geben könnte (auch wenn kein Mensch sie alle kennt).

 

So gesehen wäre die Wahrheit gewissermaßen das "Spiegelbild" der (ihr zugehörigen) Wirklichkeit, und die Annäherung eines gedanklichen Modells an die Wirklichkeit wäre dann eben auch die Annäherung an die (zugehörige) Wahrheit.

 

Man könnte sich das vielleicht - jetzt sehr simplifiziert und schematisch - auch wie folgt vorstellen: Nehmen wir an, es gäbe zu einem Phänomen 1.000 informative wahre Aussagen, mit deren Hilfe es sich umfassend beschreiben ließe.

Modell A tätigt 300 wahre und 200 falsche Aussagen. Modell 2 hingegen tätigt 500 wahre Aussagen und übernimmt von Modell 1 nur 100 falsche Aussagen. In diesem Sinne wäre Modell B der Wahrheit offensichtlich näher als Modell 1.

 

Oder vielleicht am Beispiel der Krankheitsursachen:

 

Zitat

Krankheiten betrachtete man ursprünglich als von Geistern verursacht. Aber man konnte die Geister noch so viel beschwören, manche Krankheiten kamen immer wieder. Bis jemand die Beobachtung machte, daß Fieber häufig in der Nähe von Sümpfen auftrat. Dort stank es erbärmlich. Also mußte der Gestank die Krankheiten verursachen. Man legte den Sumpf trocken und Gestank und Fieber verschwanden. Die Miasmentheorie war geboren. In unserem heutigen Verständnis war sie falsch, aber realistischer als die Geistertheorie war sie allemal und sie bestätigte sich in der Wirklichkeit. Man könnte auch sagen: die Menschen hatten einen Teil der fantastischen Gehalte ihrer Vorstellungen durch realistischere ersetzt. Sie war realistischer. Sie war ein Fortschritt.

 

Zwar ist die Aussage, dass die schlechten Gerüche des Sumpfes die Malaria verursachen, falsch. Aber mit dieser falschen Aussage verbinden sich doch auch wiederum wahre Aussagen, welche die Geister-Theorie nicht unterstützt. Die Geistertheorie impliziert unter anderem die Behauptung, dass es keinen kausalen Zusammenhang geben sollte etwa zwischen Malaria und der Nähe zu Sümpfen. Die Theorie der schlechten Gerüche hingegen impliziert die These, dass genau ein derartiger Zusammenhang besteht.

In dem letzteren Fall findet sich im Falschen also doch etwas Wahres - im ersteren Fall nicht bzw. weniger.

 

Am 17.9.2024 um 00:06 schrieb Marcellinus:

@KevinF

Den Begriff "Wahrheit" vermeide ich aber auch noch aus einem anderen Grund. Er ist, wie kaum ein anderer, ein statischer Begriff. Er symbolisiert einen Zustand, sogar einen Endzustand. Erkenntnis und Wissensfortschritt aber ist ein sozialer Prozeß, und auch nur als ein solcher zu verstehen. 

 

Gilt das aber nicht genauso auch für den Begriff "Wirklichkeit"? (Jedenfalls wenn man mal die - in unserem Zusammenhang nicht relevante - Tatsache beiseite lässt, dass sich das Angesicht der Wirklichkeit im Laufe der Zeit ändert.)

 

"Wirklichkeit" und "Wahrheit" scheinen mir beides in diesem Sinne statische Größen zu sein. Eine Annäherung an die Wirklichkeit wäre hingegen etwas Dynamisches, aber eben auch eine Annäherung an die Wahrheit. Ebenso dynamisch ist dann natürlich auch die Wissenschaft als das Unternehmen, das dies zu leisten versucht. 

 

Am 17.9.2024 um 00:06 schrieb Marcellinus:

Das ist es eigentlich, worum es, im Unterschied zu einer philosophischen Erkenntnistheorie, bei einer soziologischen Wissenstheorie geht, nicht wie die menschliches Wissen aus Sicht der Philosophie sein sollte, sondern wie es sich empirisch nachprüfbar entwickelt hat.

 

Da würde ich keinen Gegensatz sehen. Auch die (philosophische) Wissenschaftstheorie weiß natürlich, dass wissenschaftliche Modelle zwar nicht der Wahrheit (bzw. der Wirklichkeit) entsprechen, aber dennoch mehr sind als "einfach nur alle falsch".

Andererseits bedarf es eines Ideals bzw. einer Richtschnur, an der man verschiedene wissenschaftliche Modelle beurteilen kann. Das muss vielleicht nicht "Wahrheit" in einem umfassenden Sinne sein, aber doch wenigstens "empirische Adäquatheit". Empirische Adäquatheit wäre, dass zumindest die empirisch prüfbaren Aussagen eines Modells möglichst gut zur Wirklichkeit passen (oder zur entsprechenden Wahrheit, was aus meiner Sicht wie gesagt auf das gleiche hinausläuft).

 

Am 15.9.2024 um 13:06 schrieb Marcellinus:

Natürlich wissen wir einiges, und auch einiges mehr als früher, aber das Bild, das wir uns davon machen, ist in der Regel eher fantastisch als realistisch. Stell dir nur einen Augenblick vor, du könntest in die Antike "reisen" (der Traum jedes Archäologen und Historikers). Ich denke, was du da sähest, schaute erheblich anders aus als jede unserer Vorstellungen. Oder nimm die Dinosaurier, von denen jeder von uns schon viele Bilder gesehen hat. Die realen Tiere würden wir vermutlich kaum wiedererkennen. 

 

Überall dort, wo unser Wissen zugegebenermaßen lückenhaft ist, füllen wir diese mit Hilfe unserer Fantasie zu einem Bild auf, das unserem Gehirn vollständig vorkommt. Und das gilt in erstaunlichem Maße auch für die Wirklichkeit, in der wir leben, und von der wir ein Teil sind. Die Wirklichkeit ist einfach zu komplex für unser Gehirn. Also vereinfacht es. Die Unmittelbarkeit, mir der unser Gehirn diese Bilder liefert, verwechseln wir dann mit der Wirklichkeit selbst. Das ist gut für's Überleben. Nicht für die Erkenntnis. 

 

Das stimmt im Prinzip alles. Nur können wir auch bewusst nur diejenigen Teile unserer Modelle betrachten, in deren Richtigkeit wir ein extrem hohes Vertrauen haben (dürfen) und diese Teile gedanklich vom Rest abtrennen. Selbst wenn uns das auf der Ebene der gedanklichen Vorstellung womöglich nicht gut gelingen mag, weil wir sozusagen automatisiert etwas ergänzen, können wir das zumindest abstrakt tun. Und dann haben wir meines Erachtens durchaus nicht-banale und zugleich (höchstwahrscheinlich) wahre Aussagen über Teilaspekte der Wirklichkeit vor uns.

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vor 2 Minuten schrieb iskander:
Am 17.9.2024 um 00:06 schrieb Marcellinus:

Den Begriff "Wahrheit" vermeide ich aber auch noch aus einem anderen Grund. Er ist, wie kaum ein anderer, ein statischer Begriff. Er symbolisiert einen Zustand, sogar einen Endzustand. Erkenntnis und Wissensfortschritt aber ist ein sozialer Prozeß, und auch nur als ein solcher zu verstehen. 

 

Gilt das aber nicht genauso auch für den Begriff "Wirklichkeit"? (Jedenfalls wenn man mal die - in unserem Zusammenhang nicht relevante - Tatsache beiseite lässt, dass sich das Angesicht der Wirklichkeit im Laufe der Zeit ändert.)

 

"Wirklichkeit" und "Wahrheit" scheinen mir beides in diesem Sinne statische Größen zu sein. Eine Annäherung an die Wirklichkeit wäre hingegen etwas Dynamisches, aber eben auch eine Annäherung an die Wahrheit. Ebenso dynamisch ist dann natürlich auch die Wissenschaft als das Unternehmen, das dies zu leisten versucht. 

 

"Wahrheit" ist ein sprachliches Symbol für etwas Absolutes, Unwandelbares, während "Wirklichkeit", wie du vollkommen richtig bemerkst, für all das steht, was auf uns "wirkt", und das befindet sich durchaus in Bewegung. Aber es kommt noch etwas hinzu. Der Begriff "Wahrheit" hat etwas quasi-religiöses, während "Wirklichkeit" weit weniger metaphysisch aufgeladen ist. 

 

Ein Einwand gilt aber meiner Ansicht nach für beide. Ich kann mich ihnen nicht "annähern", einfach weil ich sie nicht kenne. Was wir dagegen feststellen können, ist, ob unser Bild von dieser Welt, dieser "Wirklichkeit" realistischer wird oder nicht.

 

Um auf das Beispiel mit unserem Bild von den Dinosauriern zurückzukommen. Wir graben immer mehr Überreste von diesen Tieren aus, und mit jedem neuen Fossil wächst unser Wissen an beobachtbaren Tatsachen. Aber ob wir uns damit einem hypothetischen Bild eine "wirklichen" Sauropoden annähern, wie er von über zig Mio. Jahren auf dieser Erde gelebt hat, oder ob der Zufall der gefundenen Artefakte uns auf eine falsche Fährte lockt, das wissen wir nicht. Unser immer realistischeres Bild könnte also, aus einer späteren Sicht betrachtet, ein Irrweg gewesen sein, der uns dem "wahren" Bild nicht nur nicht genähert, sondern entfernt hat.

 

Wir wissen, daß neue wissenschaftliche Erkenntnisse ein Mehr an realistischen Gehalten in unsere Vorstellungen bringen. Wir wissen einfach mehr, was sich beobachten läßt. Ob damit auch die fantastischen Gehalte unserer Vorstellung im gleichen Maße weniger werden, können wir nur hoffen. Wissen tun wir es nicht. Wir irren uns eben empor, und manchmal sogar im Rückwärtsgang. Das ist der Grund, warum ich die Metapher von der "Annäherung", egal ob an "Wahrheit" oder "Wirklichkeit", vermeide. Einfach, weil wir es nicht wissen.

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Über Religion, Philosophie und ihr Verhältnis zur Wissenschaft.

 

Menschen gibt es seit Jahrhunderttausenden, und da diese Welt ohne Gebrauchsanweisung geliefert wurde, haben sie im Laufe ihrer Geschichte drei organisierte Formen der Orientierung in dieser Welt entwickelt, in der Reihenfolge ihrer Entstehung zuerst Religion, dann Philosophie und zuletzt die Wissenschaft.

 

Am Anfang ihrer Entwicklung war das Wissen der Menschen über diese Welt noch sehr begrenzt und über deren Entstehung quasi nicht vorhanden. Nichtwissen erzeugt erst einmal Unsicherheit, weil man mögliche Gefahren nicht einschätzen kann, und weil die Menschen ab einem gewissen Stadium ihrer intellektuellen Entwicklung weit mehr Fragen stellen konnten, als sie zu beantworten in der Lage waren, füllten sie diese Leerstellen auf der Landkarte ihres Wissens mit Hilfe ihrer Fantasie.

 

Die einzelnen Stadien der Entwicklung von Religionen sind hier nicht von Bedeutung. Fest steht, daß die Menschen irgendwann angefangen haben, Erklärungen für die Entstehung dieser Welt und alle Ereignisse von affektiver Bedeutung für sie selbst, für die sie keine andere, natürliche Erklärung hatten, im Glauben an Handlungen, Ziele und Absichten als Personen gedachten übermenschlicher Wesen zu finden.

 

Mit dem Aufkommen der Stadtkulturen und der Entwicklung individualistischerer Lebensformen tauchten zum ersten Mal Philosophen auf, namentlich im antiken Griechenland, die versuchten, auf Mystik und Irrationales zu verzichten und durch Denken und Beobachten diese Welt zu verstehen. Man verzichtete auf die Erklärung durch göttliches Wirken, weil man das nicht mehr als Erklärung verstand, aber die Fragen waren eigentlich noch immer die gleichen wie in den Religionen, nach dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“.

 

Dann war da noch die Naturphilosophie, die sich in zunehmenden Maße auf die Beobachtung der Welt konzentrierte, und daraus ihre Schlüsse zu ziehen versuchte. So sammelte sich im Laufe der Zeit immer mehr empirisch nachprüfbares Wissen, ob in der Astronomie, der Medizin, oder der Technik, und langsam aber sicher entstanden die Naturwissenschaften, die aber nicht mehr nach Antworten auf Fragen von affektiver Bedeutung suchten, sondern deren Erkenntnisziel sich nun darauf richtete, herauszufinden, wie beobachtbare Ereignisse nachprüfbar miteinander in Zusammenhang stehen. Der Erfolg bleib nicht aus.

 

Diese durchaus stürmisch zu nennende Entwicklung der Naturwissenschaften hatte Auswirkungen auf Religion wie Philosophie. Je mehr nachprüfbares Wissen entstand, und auch praktisch genutzt wurde, umso weniger erschienen religiöse bzw. philosophische Fantasien auf diesen Gebieten glaubwürdig. Entsprechen heftig war der Widerstand besonders der organisierten Religionen, während die Philosophie, mit weit weniger Macht ausgestattet, weit eher gezwungen war, sich anzupassen.

 

Die Religionen, zumindest in unseren Breiten, haben sich mittlerweile weitgehend damit arrangiert, daß es keine gute Idee ist, mit den Naturwissenschaften bei der Erklärung beobachtbarer Tatsachen konkurrieren zu wollen. Auch wenn sie weiterhin ihre Schöpfungsgeschichten predigen, scheinen die doch mittlerweile in einer Art Parallelwelt angesiedelt zu sein. Zwar behaupten die Kirchen weiterhin ihre Autorität in Fragen der Moral, nur wissen sie selbst, daß das nicht einmal mehr von allen ihren Mitgliedern akzeptiert wird. Im Bezug auf die Nicht-Religiösen hat sich zumindest bei den beiden christlichen Konfessionen eine Art mißmutige Akzeptanz eingestellt. Man mag sie nicht besonders, weiß aber, daß man sie nicht mehr los wird und man mit ihnen zurecht kommen muß.

 

Die Philosophie verzichtet mittlerweile auch weitgehend darauf, mit den Naturwissenschaften zu konkurrieren, und verlegt sich stattdessen zum einem großen Teil auf sogenannte „Geltungfragen“, die nach dem „Wesen der Welt“, dem „Sinn des Lebens“, oder wie „gültige Erkenntnisse“ zu erlangen wären, die vor den Augen der Philosophen Anerkennung finden könnten; insgesamt all die Fragen, die nicht durch Beobachtung zu belegen, und doch, nach Überzeugung der Philosophen, mit Verstand und rationaler Diskussion entscheidbar sind, was allerdings in der Praxis nicht gelingt.

 

Ein weiteres Problem entsteht dadurch, daß die Philosophie sich nicht wie die Religion vornehmlich an ihre Anhänger richtet, sondern im Gegenteil bis heute einen Universalismus vertritt, der behauptet, ihre Erkenntnisse seien gültig für alle Menschen. Dazu steht in seltsamem Kontrast, daß keine ihrer sogenannten Erkenntnisse empirisch überprüfbar sind oder auch nur unwidersprochen bleiben. Selbst als erledigt gelten philosophische Thesen erst dann, wenn sie von den theoretisch-empirischen Wissenschaften überholt wurden.

 

Besonders im Bezug auf die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie behauptet die Philosophie bis heute, eine Art Grundlagenwissenschaft zu sein, die den Einzelwissenschaften ihre Methoden vorzuschreiben im Stande sei, ohne daß erkennbar wäre, worauf sich dieser Anspruch gründet, hat doch die Philosophie nicht einmal für sich selbst eine anerkannte Methode.

 

Das ist dann auch das Problem, daß ich mit der Philosophie habe. Nicht, daß sie wie die Religion nach Antworten sucht, wo andere längst keine Fragen mehr haben, sondern die Behauptung, ihre Philosophie habe Bedeutung auch für die, die das für sich ablehnen; jeder habe notwendig eine Philosophie, und sei es, eine schlechte.

 

Wo die Religionen zumindest in unseren Breiten begriffen haben, oder zumindest nach außen zugeben, daß man auch ohne Religion ein vollwertiger Mensch sein könne, hat sich diese Erkenntnis bis zur Philosophie noch nicht herumgesprochen. Solange das so ist, solange die Philosophie nicht erkennt, daß, so wie es für Religion keinen Grund gibt, außer man ist religiös, es für Philosophie keinen außerphilosophischen Grund gibt, solange sie gegenüber Außenstehenden Geltungsansprüche erhebt, wohlgemerkt, ohne diese durch Tatsachenbeobachtungen belegen zu können, solange muß sie mit meinem Widerspruch rechnen.

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