SteRo Geschrieben 7. Januar Melden Geschrieben 7. Januar vor 5 Minuten schrieb Jakobgutbewohner: Wenn eigentlich viele Leute soetwas auf mich impulshaft wirkend abwehren, könnte das daran liegen, daß sie in sich dämmernd Dinge spüren, an die sie selbst nicht rühren möchten? Natürlich ist es nicht auszuschließen, dass manche Leute das "impulshaft abwehren" (hier: "impulshaft" = unüberlegt, ggf. von ankonditionierter Aversion getrieben), weil es nicht ihrer Weltanschauung entspricht, an der sie hängen, oder weil sie Verletzungen im Kontext von Religion mit sich rumtragen, aber der entscheidende Punkt scheint mir doch zu liegen in "und der andere Menschen hiervon überzeugen will" denn "überzeugen wollen" geht notwendigerweise einher mit "behaupten" und wer behauptet sollte nach guter menschlicher Manier seine Behauptungen auch beweisen können, es sei denn er spricht als Glaubensverkünder vor einer Gemeinschaft, die seine Autorität vorbehaltlos (und naiv) anerkennt, egal zu was er sich äußert. Jegliche subjektive Erfahrung kann aufgrund ihrer Natur niemals die Glaubwürdigkeit für Behauptungen einer "spirituellen" Ursache dieser Erfahrung stützen, geschweige denn diese beweisen, weil jegliche subjektive Erfahrung psychologisch und ggf. auch neurologisch (also wissenschaftlich) erklärbar ist. Der Mensch muss aber im Zweifelsfalle immer den letztendlich sinnlich validierbaren Erklärungen von Phänomenen den Vorzug geben und dies sind wissenschaftliche Erklärungen, sofern sie auf einer Nicht-Geisteswissenschaft beruhen. Zitieren
Jakobgutbewohner Geschrieben 7. Januar Melden Geschrieben 7. Januar vor 25 Minuten schrieb SteRo: der entscheidende Punkt scheint mir doch zu liegen in "und der andere Menschen hiervon überzeugen will" Ja. vor 26 Minuten schrieb SteRo: "überzeugen wollen" geht notwendigerweise einher mit "behaupten" und wer behauptet sollte nach guter menschlicher Manier seine Behauptungen auch beweisen können Ich sehe ersteinmal das, was heute als "Wissenschaft" verehrt und zum Maßstab vieler Dinge erhoben wird schon kritisch, z.B. in der Weise, daß ich meine, viele problematische Verhältnisse dieser Zeit gehen darauf zurück. Und ich halte diese heutigen Setzungen von "Wissenschaft" auch nicht für selbstverständlich. Die Frage würde also sein, was wer wenn als "Beweis" betrachten würde. Heutige "Wissenschaft" dockt eben an Körpersinnen an und wirkt insofern reduktionistisch und bewirkt damit eine Verzerrung von vermeintlich gesichertem Wissen über die Realität. Es entspricht auch nicht meinem Stand, daß "seelische Sinneswahrnehmungen" immer nur subjektiv stattfinden würden und nie intersubjektive Gestalt einnehmen würden. "Überzeugen wollen" kann auch verschiedene Hintergründe haben, ganz banal könnte sich z.B. der, der soetwas erfahren hatte einfach darüber mit anderen Menschen austauschen wollen. Andere würden direkt davon vielleicht gar nicht andere überzeugen wollen, sondern mehr auf Themen hinweisen, die damit zusammenhängen und andere Personen und etwas ihren Seelenzustand betreffen, der innerster Kern des Seins jedes Menschen ist und auf dessen Seinsqualität bestimmend wirkt. Zitieren
SteRo Geschrieben 7. Januar Melden Geschrieben 7. Januar vor 11 Minuten schrieb Jakobgutbewohner: Ich sehe ersteinmal das, was heute als "Wissenschaft" verehrt und zum Maßstab vieler Dinge erhoben wird schon kritisch, z.B. in der Weise, daß ich meine, viele problematische Verhältnisse dieser Zeit gehen darauf zurück. Und ich halte diese heutigen Setzungen von "Wissenschaft" auch nicht für selbstverständlich. Die Frage würde also sein, was wer wenn als "Beweis" betrachten würde. Heutige "Wissenschaft" dockt eben an Körpersinnen an und wirkt insofern reduktionistisch und bewirkt damit eine Verzerrung von vermeintlich gesichertem Wissen über die Realität. Es entspricht auch nicht meinem Stand, daß "seelische Sinneswahrnehmungen" immer nur subjektiv stattfinden würden und nie intersubjektive Gestalt einnehmen würden. "Überzeugen wollen" kann auch verschiedene Hintergründe haben, ganz banal könnte sich z.B. der, der soetwas erfahren hatte einfach darüber mit anderen Menschen austauschen wollen. Andere würden direkt davon vielleicht gar nicht andere überzeugen wollen, sondern mehr auf Themen hinweisen, die damit zusammenhängen und andere Personen und etwas ihren Seelenzustand betreffen, der innerster Kern des Seins jedes Menschen ist und auf dessen Seinsqualität bestimmend wirkt. Mir erscheint nicht, dass Wissenschaft verehrt werden würde. Nein, in einer Welt der Kakophonie unbegründbarer Behauptungen ist es gut die Instanz "Wissenschaft" zu haben. Das gilt auch für den Bereich des Glaubens: hier ist es gut die Instanz "[geistes-]wissenschaftliche Theologie" zu haben. Wenn Gott nicht gewollt hätte, dass die Seele die körperlichen Sinne benötigt, um ihr Vernunftvermögen zu entfalten, dann hätte er einen anderen Menschen erschaffen. Dass also Nicht-Geisteswissenschaft "an Körpersinne andockt" entspricht Gottes Willen, so wie es Gottes Willen entspricht, dass beginnend bei den Sinnen die Vernunft in immer höhere Gefilde emporsteigen kann, welche nicht mehr von den Sinnen abhängig sind. Wer auch immer auf dem Bereich des Glaubens meint glaubensrelevante "Erfahrungen" gemacht zu haben, der tausche sich bitte mit jenen aus, die sich mit Glauben auskennen und trete nicht als weiterer Marktschreier auf dem Markt der "spirituellen Ignoranten" auf, davon gibt es heutzutage einfach zu viele. Zitieren
Jakobgutbewohner Geschrieben 7. Januar Melden Geschrieben 7. Januar vor 2 Stunden schrieb SteRo: dass die Seele die körperlichen Sinne benötigt, um ihr Vernunftvermögen zu entfalten Das würde ich ersteinmal bestreiten. vor 2 Stunden schrieb SteRo: Dass also Nicht-Geisteswissenschaft "an Körpersinne andockt" entspricht Gottes Willen, so wie es Gottes Willen entspricht, dass beginnend bei den Sinnen die Vernunft in immer höhere Gefilde emporsteigen kann, welche nicht mehr von den Sinnen abhängig sind. Wenn du dich auf "Geisteswissenschaft" beziehst, ginge es in dieser nicht um, wie du vielleicht sagen würdest, spekulatives Denken? Das wäre dann wohl etwas anderes als "seelische Sinneswahrnehmung". vor 2 Stunden schrieb SteRo: Wer auch immer auf dem Bereich des Glaubens meint glaubensrelevante "Erfahrungen" gemacht zu haben, der tausche sich bitte mit jenen aus, die sich mit Glauben auskennen und trete nicht als weiterer Marktschreier auf dem Markt der "spirituellen Ignoranten" auf, davon gibt es heutzutage einfach zu viele. Eine Haltung, die ich fragwürdig finde, aber durchaus gewisse (irrationale?) Abneigungen transportiert. Zitieren
iskander Geschrieben 7. Januar Melden Geschrieben 7. Januar (bearbeitet) vor 8 Stunden schrieb KevinF: Jetzt, wo ich das lese, fällt mir ein, dass wir tatsächlich schon darüber gesprochen haben. Ich verweise daher einfach auf meinen Beitrag hier. Dazu hatte ich dann hier geantwortet. Aber vielleicht lohnt es sich, das etwas zu vertiefen bzw. meine eigene Haltung klarer zu machen. Wenn man nur sagt: "Die Erfahrungen des anderen stellen für mich kein überzeugendes Argument für Religiosität dar", dann würde ich Dir ja wie gesagt gar nicht widersprechen wollen. Aber Du scheinst - das ist zumindest mein Eindruck - darüber hinauszugehen und mehr zu behaupten: Nämlich dass entsprechende Erfahrungen auch für denjenigen, der sie macht, vernünftigerweise kein Argument für seine Religiosität sein könnten. Diese zweite Behauptung ist aber stärker und aus meiner Sicht (daher) auch schwieriger zu begründen. Ich versuche es mal mit einem Vergleich - der natürlich wie jeder Vergleich hinkt -, und zwar aus einem ganz anderen Kontext. Nehmen wir an, jemand tut etwas Besonderes - beispielsweise besteigt er einen bisher unbezwungenen Berg. Nun kann er das aber nicht beweisen, und in der Tat sprechen unglücklicherweise viele Anhaltspunkte sogar nachdrücklich dafür, dass er nicht auf dem Berg war. Für einen Außenstehenden wäre an dieser Stelle wohl die vernünftigste Annahme, dass die entsprechende Person nicht auf dem Berg war. Der Betroffene lügt oder hat es sich vielleicht eingebildet. Aber für die betroffene Person selbst? Wenn sie sich absolut klar erinnert, dass sie wirklich auf dem Berg war und nach allem menschlichen Ermessen auch von sich behaupten kann, dass ihr Gedächtnis zuverlässig funktioniert und sie keinerlei Neigung zu Halluzinationen hat (auch nicht auf hohen Bergen): Dann kann es für sie durchaus vernünftig sein, bei der Überzeugung zu bleiben, dass sie auf dem Berg war. Nur kann sie von anderen nicht erwarten, dass diese ihr ohne weitere Beweise glauben (jedenfalls sicher nicht Fremde, die sie nicht gut einschätzen können). Die Disanalogie besteht natürlich darin, dass wir normalerweise unsere Sinneserfahrung und ihre Aussagekraft gut einschätzen können. Wenn wir klar und deutlich einen Berg sehen, dann gehen wir unter üblichen Bedingungen davon aus, dass da auch ein Berg steht; und das zweifellos mit gutem Grund. Wie aber ist es mit religiösen Erfahrungen? Wir können sicher nicht einfach annehmen, dass es Erfahrungen Art gibt, die mehr als nur "innerpsychisch" sind, und wo der Betroffene auch weiß, dass sie"mehr" sind. Können wir andererseits aber sicher sein, dass es solche Erfahrungen nicht gibt? Sicher genug, damit wir nicht nur die Meinung des anderen, etwas Transzendentes erfahren zu haben, für wenig überzeugend halten, sondern ihm auch mit Bestimmtheit sagen können: "Wir wissen mit Gewissheit, dass Du Dich irren musst - also solltest Du, wenn Du kein Irrationalist sein willst, Deine Meinung ändern!" Ich bezweifle, dass man eine solche These überzeugend begründen kann - denn was gibt uns ein derart sicheres Wissen darüber, wie die Erlebnisse anderer Leute einzuschätzen sind - wenn keine klaren von außen beobachtbaren Anhaltspunkte hinzukommen? Woher wissen wir jenseits aller vernünftiger Zweifel, wie die Erfahrungen anderer erklärbar sein müssen, wenn sie uns letztlich unzugänglich sind? Oder noch grundsätzlicher: Wie können wir überhaupt bestimmte Erfahrungen erkenntnistheoretisch beurteilen? Wissen wir beispielsweise tatsächlich, dass eine - zumindest dem Anschein nach - "existentielle Singerfahrung" gar nichts anderes sein kann als "nur ein Gefühl"? Was macht uns da so sicher, wenn wir das nicht einfach als Selbstverständlichkeit betrachten, sondern wirklich begründen wollen? Wenn man keinem Szientismus verfallen möchte, der von vornherein alle menschlichen Erfahrungen, die nicht (natur)wissenschaftlich einzuordnen sind, de facto für obsolet erklärt, wird man eine gewisse Vorsicht walten lassen müssen, Erfahrungen, die nicht intersubjektiv erforschbar sind, von außen mit einem Höchstmaß an Gewissheit beurteilen zu wollen. (Um ein andere Beispiel anzuführen: Wie sollen wir moralische Einsichten und Erfahrungen deuten? Viele Naturalisten würden zwar sagen, dass das eben auch nur Gefühle seien, die auf nichts Wirkliches hindeuten - aber Du beispielsweise scheinst das (wenn ich Dich richtig verstanden habe) anders zu sehen.) Deshalb eben meine Differenzierung: - Wenn man sagt, dass die einem selbst unzugänglichen religiösen Erfahrungen anderer für einen selbst kein Argument sein können, ist das recht überzeugend. - Wenn man sagt, dass der andere irrationale handeln müsse, sobald er seine eigenen, ihm zugänglichen religiösen Erfahrungen als Argument betrachtet, dürfte diese Behauptung hingegen schwer in dieser Klarheit zu beweisen sein. Eine gesunde Skepsis verlangt nicht nur, dass man gegenüber einer Behauptung, die - zumindest für einen selbst - ohne überzeugende Begründung bleibt, vorsichtig ist. Sondern zu ihr gehört auch, dass man zurückhaltend sein sollte, eine solche Behauptung als "sicher falsch" einzuordnen, sofern man nicht sicher um die Falschheit wissen kann. Zwischen einem "Du bist in der Beweispflicht" und einem "Du irrst Dich definitiv" besteht ein erheblicher Unterschied; ebenso wie zwischen einem "Deine mir unzugängliche Erfahrung kann für mich kein Argument sein" und einem "Deine Dir zugängliche (und mir letztlich unbekannte) Erfahrung kann für Dich kein Argument sein". bearbeitet 7. Januar von iskander Zitieren
KevinF Geschrieben 7. Januar Melden Geschrieben 7. Januar (bearbeitet) 2 hours ago, iskander said: Zwischen einem "Du bist in der Beweispflicht" und einem "Du irrst Dich definitiv" besteht ein erheblicher Unterschied; ebenso wie zwischen einem "Deine mir unzugängliche Erfahrung kann für mich kein Argument sein" und einem "Deine Dir zugängliche (und mir letztlich unbekannte) Erfahrung kann für Dich kein Argument sein". Ich kann und will anderen Leuten nicht ihre Erfahrungen absprechen. Aber wie Du ja auch selbst sagst, für mich können sie kein Argument sein. Und letztlich muss jeder selbst wissen, ob er glauben möchte, dass er aufgrund wundersamer Erfahrungen im Besitz eines Geheimwissens ist, das der Rest der Menschheit nicht hat. Ich halte diese Deutung der Erfahrung für falsch, ob und wie ich das meinem Gegenüber mitteile, ist eigentlich nur eine Frage der Höflichkeit. Ansonsten führte uns die Diskussion damals ja zurück in den Qualia-Thread. bearbeitet 7. Januar von KevinF Zitieren
SteRo Geschrieben 8. Januar Melden Geschrieben 8. Januar (bearbeitet) vor 15 Stunden schrieb Jakobgutbewohner: Das würde ich ersteinmal bestreiten. Wenn du dich auf "Geisteswissenschaft" beziehst, ginge es in dieser nicht um, wie du vielleicht sagen würdest, spekulatives Denken? Das wäre dann wohl etwas anderes als "seelische Sinneswahrnehmung". Eine Haltung, die ich fragwürdig finde, aber durchaus gewisse (irrationale?) Abneigungen transportiert. Du kannst alles bestreiten, was Inhalt der Theologie ist. Ich aber denke die Theologie. Spekulatives ist [geistes-]wissenschaftliches Denken, Denken also, welches nicht unmittelbar auf Sinneswahrnehmungen beruht. zB "Das ist ein Stein", wenn ich auf einen dort liegenden Stein deute, ist nicht spekulatives Denken, weil es unmittelbar auf Sinneswahrnehmung beruht. "seelische Sinneswahrnehmung"? Was soll das sein? Die Zurückweisung von subjektiver Erfahrung als Beleg für etwas, das nicht subjektive Erfahrung ist, finden jene fragwürdig, deren Ansichten Behauptungen auf subjektiven Erfahrungen gründen. [Anm.: Auf subjektiven Erfahrungen beruhende Ansichten darf man ja haben, aber man sollte sie nicht öffentlich behaupten] bearbeitet 8. Januar von SteRo Zitieren
Jakobgutbewohner Geschrieben 8. Januar Melden Geschrieben 8. Januar vor 1 Stunde schrieb SteRo: Die Zurückweisung von subjektiver Erfahrung als Beleg für etwas, das nicht subjektive Erfahrung ist, finden jene fragwürdig, deren Ansichten Behauptungen auf subjektiven Erfahrungen gründen. Es ginge um eine auf mich voreingenommen wirkende selektive Zurückweisung mancher sujektiver Erfahrungen. Zitieren
SteRo Geschrieben 8. Januar Melden Geschrieben 8. Januar vor 5 Stunden schrieb Jakobgutbewohner: Es ginge um eine auf mich voreingenommen wirkende selektive Zurückweisung mancher sujektiver Erfahrungen. Meine Voreingenommenheit ist die, dass ich die Glaubenslehre denken will und mich dementsprechend ausdrücke. Wenn dann jemand ankommt und sagt "Ach bitte, denk doch so wie ich das denke." dabei aber von der Glaubenslehre Abweichendes ausdrückt, soll ich dann mein Vorhaben fallen lassen? Da würde ich mit meinem Projekt ja nie fertig werden und außerdem würde ich die Konsistenz der Glaubenslehre aufgeben, wenn ich einzelne Punkte davon mit Privatmeinungen von irgendjemandem ersetzen würde. Zitieren
Weihrauch Geschrieben 8. Januar Melden Geschrieben 8. Januar Am 4.1.2025 um 12:48 schrieb Cosifantutti: Nochmals: Wo soll es im Hohelied selber „textimmanente“ Hinweise darauf geben, dass diese Liebeslieder vorwiegend allegorisch gedeutet werden müssen und der Literalsinn dagegen „hier“ vernachlässigt werden kann ? Nirgends. Das ist es ja. Am 4.1.2025 um 12:48 schrieb Cosifantutti: Die Entscheidung liegt doch außerhalb des Textes und ist in einer Vorentscheidung begründet, die mit der generellen Einschätzung der Sexualität zusammenhängt. Zunächst einmal ist doch das Hohelied unbestreitbar eine Sammlung von erotisch-sexuell gefärbten Liebesliedern. Poetisch beschrieben wird das erotisch-sexuelle Begehren zweier Menschen. Der Körper des jeweils Begehrten anderen wird in schwärmerischen Tönen beschrieben, die Sehnsucht nach Zusammensein wird thematisiert und dann immer wieder das Zusammensein, das natürlich auch die direkte erotisch-sexuelle Dimension und die sexuelle Lust aufeinander einschließt. Wenn man jetzt nicht sehr positiv und freudig überrascht ist, dass so ein Text, wie es die Liebeslieder des Hoheliedes darstellt, mit diesen explizit erotisch sexuellen Anspielungen es in den Kanon der Heiligen Schriften geschafft hat, sondern dies ausdrücklich zu einem „Problem“ gemacht hat und sich sogleich auf eine allegorische Deutung gestürzt hat, um eben die direkt erotisch-sexuelle Dimension auf zwischenmenschlicher Ebene auszublenden, dann liegt doch der Verdacht sehr nahe, dass man ein sehr großes Problem mit der sehr offen geschilderten Erotik-Sexualität der Liebeslieder hatte und genau diese menschliche erotisch-sexuelle Dimension nicht direkt mit Gott und seiner „Offenbarung“ in Verbindung bringen wollte / mochte / konnte. Genau. Am 4.1.2025 um 12:48 schrieb Cosifantutti: Ich finde es wunderbar, dass es diese allegorischen Auslegungen des Hohenliedes gibt und sie ist vollauf berechtigt und höchst sinnvoll. Vor allem, da hier über Gott und Mensch / Seele geredet wird nicht in den Kategorien von Schuld / Verdammnis / Erlösung, sondern in der Sprachwelt der erotisch gefärbten Liebe und des Begehrens. ( Vgl auch Psalm 63…. ). Gerade auch die allegorisch-religiöse Deutung ist Hintergrund dafür, dass das Hohelied zu Recht ein Stück Weltliteratur ist. Du kannst das ja ganz wunderbar finden, es ändert aber nichts daran, dass es sich bei dieser "Auslegung" nicht um eine Auslegung handelt, sondern um eine brutale Umdeutung, eine Missachtung der von den Autoren beabsichtigten Botschaft, um so mehr, wenn man Gott als Autor in Betracht zieht - eben weil es keine textimmanenten Hinweise gibt, die eine Allegorie plausibel machen. Es ist also keine allegorische Deutung eines allegorischen Textes, sondern eine Allegorese, eines Textes der keine Allegorie ist, es ist keine Exegese sondern eine Eisegese. Also nein, das Lied der Lieder ist erotische Weltliteratur und bedarf mitnichten christlicher Umdeutung, um in den Rang der Weltliteratur erhoben zu werden. Weltliteratur wird von Autoren geschrieben, nicht von verklemmten Moralisten. Am 4.1.2025 um 12:48 schrieb Cosifantutti: Die eigentliche ironische Pointe ist doch, dass das Hohelied als berühmte Allegorie steht für die Liebe Gottes zu den Menschen…. Das eher nicht. Am 4.1.2025 um 12:48 schrieb Cosifantutti: Zu seinem Volk Israel… Das schon eher. Am 4.1.2025 um 12:48 schrieb Cosifantutti: zu der einzelnen Seele… Jain, da kommt mir der Körper zu kurz. Im damaligen Frühjudentum gab es diese Trennung von Körper und Geist noch nicht. Am 4.1.2025 um 12:48 schrieb Cosifantutti: Christus zu seiner Kirche…etc…. Was sollen denn die Autoren des Hoheliedes im 4. Jh. vor Chr. oder früher mit Christus und der katholischen Kirche am Hut gehabt haben? Nix. Das AT wurde nicht auf Christus hin geschrieben. Es aus Erklärungsnot gegen die jüdische Tradition auf Christus und die Kirche hin zu interpretieren, mag aus damaliger Sicht nachvollziehbar sein, ändert aber nichts daran, dass das aus heutiger Sicht nach dem Holocaust einfach nicht mehr glaubwürdig, geschweige denn statthaft wäre. Am 4.1.2025 um 12:48 schrieb Cosifantutti: Und das Hohelied soll im Mittelalter wohl ein sehr oft kommentiertes Buch gewesen sein. Gleichzeitig verteufelte die Kirche gerade das Ausleben der Erotik und Sexualität, wie es in den Liebesliedern des Hohenliedes beschrieben wird, obwohl diese beschriebene und in den Liedern praktizierte Erotik und Sexualität dann wiederum als Ausgangspunkt für die Ebene der Allegorie genommen wurde. Verteufelung ist kein textimmanenter Hinweis, an der man eine Allegorie erkennen kann, und keine hermeneutische Methode, die zu guten Ergebnissen bei einer Exegese führt. Diejenige von Gott gegebene Kraft, wohl besser Macht im Menschen, zu verteufeln, welche ihn dazu befähigen sollte das Land zu füllen, ist eigentlich eine Blasphemie. Am 4.1.2025 um 12:48 schrieb Cosifantutti: Heute hat man die Chance, mit Verweis auf das Hohelied als Teil der „Heiligen Schriften“, in Bezugnahme auf den Literalsinn ein unverkrampftes Verhältnis zur Sexualität und des erotischen. Begehrens in der kirchlichen Sexualmoral zu entwickeln. Ja, aber ich fürchte, dass der Kirche ihre Autorität und ihre Tradition wichtiger sind als alles andere. Es ist ja nicht so, dass das AT keine Sexualmoral hätte, aber eben eine völlig andere, eine explizit das Judentum sichernde, und diese jüdische Sexualmoral lässt sich nicht globalisieren, da sie nur im Rahmen einer Volksreligion und deren Identitätsgedanken verständlich ist. Sie gilt den Jüngern eines ganz bestimmten Volkes und kann nicht dazu umgemünzt werden, um alle Völker zu Jüngern einer Weltreligion zu machen. Es gibt Grenzen, die sich nicht mit Rhetorik verschieben lassen. 1 Zitieren
Weihrauch Geschrieben 8. Januar Melden Geschrieben 8. Januar (bearbeitet) Am 6.1.2025 um 21:07 schrieb iskander: ... Wir haben es also im Hohenlied mit zwei unverheirateten Menschen zu tun, und nichts läßt erkennen, daß sie überhaupt daran denken, eine Ehe zu schließen. Lebensgemeinschaft, Leben zu zweit, gar Kinder liegen völlig außerhalb ihres Blickfeldes. ... (Zitiert aus Haag/Elliger: Stört nicht die Liebe.) Doch, es gibt Stellen im Lied der Lieder, an denen man genau das erkennen kann: Obwohl die beiden, Schullamit und Salomo, jede Menge genüßlichen Outdoorsex miteinander haben, bei dem sie auf keinen Fall gestört werden wollen ... Zitat Hld 2,7 Bei den Gazellen und Hinden der Flur / beschwöre ich euch, Jerusalems Töchter: Stört die Liebe nicht auf, / weckt sie nicht, / bis es ihr selbst gefällt! Hld 3,5 Bei den Gazellen und Hinden der Flur / beschwöre ich euch, Jerusalems Töchter: Stört die Liebe nicht auf, / weckt sie nicht, / bis es ihr selbst gefällt! Hld 8,4 Ich beschwöre euch, Jerusalems Töchter: / Was stört ihr die Liebe auf, / warum weckt ihr sie, ehe ihr selbst es gefällt? ... will Schullamit ihren geliebten Salomo unbedingt in das Haus ihrer Mutter führen: Zitat Hld 3,4 Kaum war ich an ihnen vorüber, / fand ich ihn, den meine Seele liebt. Ich packte ihn, ließ ihn nicht mehr los, / bis ich ihn ins Haus meiner Mutter brachte, / in die Kammer derer, die mich geboren hat. Hld 8,2 Führen wollte ich dich, / in das Haus meiner Mutter dich bringen, / die mich erzogen hat. Würzwein gäbe ich dir zu trinken, / Granatapfelmost. Warum? Damit sie sich dort beim Sex ertappen lassen können, rechtzeitig zu spät wenn möglich, und sie sich sicher sein kann, dass er sie niemals verlassen wird. Wie schön ist das denn? Eine Liebesheirat steht bei Gott höher im Kurs als eine von den Eltern angebahnte, was damals die Regel war. Das ist der Hintergrund: Zitat Dtn 22,28-29 Wenn ein Mann einem unberührten Mädchen, das noch nicht verlobt ist, begegnet, sie packt und sich mit ihr hinlegt und sie ertappt werden, soll der Mann, der bei ihr gelegen hat, dem Vater des Mädchens fünfzig Silberschekel zahlen und sie soll seine Frau werden, weil er sie sich gefügig gemacht hat. Er darf sie niemals entlassen. Der Haken bei dieser Art der Eheanbahnung war, dass der Mann der Frau keinen Scheidebrief ausstellen durfte, was sonst jederzeit möglich gewesen wäre. Die Frau hatte dieses Recht in keinem Fall. Gerade die erotische Lust und vorehelicher Sex macht im Hohelied eine Ehe zu einer Liebesheirat, die für beide bis zum Tode unauflöslich bleibt, wenn man den Kontext nicht aus den Augen verliert. Menschliche Eltern waren damals vielleicht not amused, wer weiß, oft vielleicht doch, wenn sie ihre verliebten Kinder sahen, und durch sie an ihre eigene Verliebtheit in Jugendtagen erinnert wurden, die das mit der Eheanbahnung vielleicht auch selbst in die eigene Hand genommen hatten. Jedenfalls ist Gott amused, wenn er In Gen 3 "außer Haus" ist, und taktvoll gerade rechtzeitig zu spät wieder "nach Hause" kommt, um nicht zu stören, was in seinem Sinne ist. Dieses Ertapptwerden ist der Plot in dieser humorvoll menschlichen Erzählung. Ist ja ziemlich merkwürdig, dass der Allgegenwärtige, der alles sieht und alles immer schon im Voraus weiß, mal kurz weg ist, damit der Mensch und seine Frau ihr Schäferstündchen in Ruhe feiern können, und sich so das erfüllt, was Gott sich von Anfang an von seinem Nachwuchs wünscht: Seid gottebenbildlich fruchtbar wie der Himmel und das Land: Macht Menschen, seid fruchtbar. Werdet wie Gott und erkennt das Gute und das Schlechte und - werdet unsterblich - nicht als Individuen die sterblich sind und bleiben, sondern als Mensch mit Nachkommenschaft, mit Nachkommenschaft, mit Nachkommenschaft ... Stammbäume aus denen die Freude spricht, und er zeugte Söhne und Töchter. Was für ein Segen für das Volk, welches das Land gefüllt hat. Und es geschah so, und Gott sah alles an, was er geschaffen hatte. Und siehe, es war sehr gut. bearbeitet 8. Januar von Weihrauch 1 Zitieren
Studiosus Geschrieben 8. Januar Melden Geschrieben 8. Januar (bearbeitet) Ich will an dieser Stelle gar nicht über das Hohelied streiten. In der neueren Exegese geht die Tendenz eindeutig weg von der typologisch-allegorischen Deutung und hin zu dem, was man vielleicht eine Sammlung eher weltlicher Liebeslieder nennen könnte. Da die Diskussion aber wieder aufgemacht wurde und es mich dann doch interessiert hat, habe ich die Einleitung von Zenger hervorgeholt und bin darin auf den, wie ich finde, sehr ausgewogenen Artikel von Ludger Schwienhorst-Schönbeger* gestoßen. Und ich war überrascht, dass hier doch zumindest Teile auch meiner Kritik zumindest zur Sprache kommen. Ich darf in kurzen Auszügen zitieren: Mit Blick auf die Theologie des Hoheliedes schreibt Schwienhorst-Schönberger unter der Zwischenüberschrift "Ohne Gott?" Folgendes: "Das im Hinblick auf die Frage nach der Theologie des Hld im Kontext der neuzeitlichen Bibelkritik immer wieder reflektierte Problem lässt sich mit C. Kuhl so umschreiben: 'Es fehlt im Hld schlechterdings jeder religiöser Gedanke; ja, das ganze Buch ist von der ersten bis zur letzten Zeile so ohne Gott und ohne jede Religion..., dass man um die Frage nicht herumkommt, wie konnte dieses Buch überhaupt kanonisiert und sogar den Megillot zugewiesen werden' (C. Kuhl, Das Hohelied 141)" (Zenger, Einleitung, 483) Das ist doch schonmal eine interessante Frage, die Schwienhorst-Schönberger vermittelt über Kuhl hier aufs Tableau bringt. Ich habe sie vor einiger Zeit hier ebenfalls, wenn auch in leicht anderer Stoßrichtung, gestellt. Wenn es sich beim Hohelied tatsächlich lediglich um eine Sammlung von Liebesliedern, teils mit erotischen Anklängen, handelt, und es auch so, d. h. ohne eine im engeren Sinne theologische Zwischenebene, intendiert war, dann drängt sich nicht nur die Frage auf, warum diese Schrift in den hebräischen Kanon aufgenommen wurde, sondern noch viel mehr, warum die frühe Kirche das Hohelied nicht verworfen, sondern es explizit als Teil der Offenbarung, als inspirierte Schrift, rezipiert und anerkannt hat. Und da kommt die allegorische Interpretation ins Spiel. Hier ist deutlich zu machen, dass die allegorische Deutung eben gerade keine Erfindung, keine Verlegenheitslösung der Christen war, sondern fest in der jüdischen Tradition verankert ist. Hierzu führt Schwienhorst-Schönberger aus: "Im Judentum reicht das allegorische Verständnis bis in die 2. Hälfte des 1. Jh.s v. Chr. zurück. Es zeigt sich heute noch darin, dass das Hld als Festrolle beim Pessach-Fest gelesen wird, jenem Fest, das die Befreiung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens feiert. Die Kirche hat das allegorische Verständnis des Hld vom Judentum übernommen und weiter entfaltet [...]." (Zenger, Einleitung, 484) Auch darüber, den manchmal auch nur vermeintlichen Gegensatz zwischen jüdischer und christlicher Auslegung, hatten wir hier schon gesprochen. Nun bin ich niemand, der zwingend der jüdischen Auslegung als der "ursprünglicheren" das Wort redet, aber wenn man wollte, könnte man dieses Argument gegen die heute durchschlagende anti-typologische und anti-allegorische Interpretation ins Feld führen. Wenn das Volk, dem diese Schriften zuerst gehörten, schon den allegorischen Sinn erkannte und theologisch und kultisch auswertete, wie sollte man dann guten Gewissens sagen können, die Kirche sei darin fehlgegangen, diesen Sinn festzuhalten und weiterzuentwickeln? Da sehe ich eher die rezente Exegese in der Rechtfertigungspflicht, welche die Typologie und Allegorie als sekundäre, unsachgemäße, ja übergestülpte Deutungen zurückweist und den profan-romantischen Sinn fast ausschließlich vertritt. Dass dieser Befund auch nach der Binnenlogik der modernen Exegese nicht trägt, zeigt Schwienhorst-Schönberger an anderer Stelle und damit will ich es auch erst einmal bewenden lassen: "Die allegorische und kultische Interpretation des Hld werden oft als ein Versuch kritisiert, der angeblich so profanen Sammlung von Liebesliedern einen theologischen Sinn abzugewinnen, der jedoch vom Text selbst her nicht gedeckt sei. Doch wird man schon allein aus literatursemiotischer Sicht die allegorische Interpretation nicht mehr grundsätzlich als falsch bewerten können. [...] In jüngerer Zeit mehren sich die Stimmen, die für ein ursprüngliches, vom Autor intendiertes symbolisch-allegorisches Verständnis plädieren [...]. Nach M. Gerhards gehört das genuin theologische Verständnis des Hld, wie es sich in der geistigen Deutung der jüdischen und christlichen Tradition herausgebildet hat, zur ursprünglichen Bedeutung des Textes." (Zenger, Einleitung, ebd.) Weiters zitiert Schwienhorst-Schönberger Y. Zakovitch, der argumentiert, der textuell fehlende explizite Gottesbezug erleichtere paradoxerweise sogar die Deutung des Textes auf Gott hin. Wenn nämlich neben dem männlichen Protagonisten (Bräutigam, König, Hirte) Gott hie und da ausdrücklich genannt würde, wäre die Identifikation des zentralen männlichen Sprechers mit Gott viel schwerer möglich (Zenger, Einleitung, ebd.). *Ordinarius für Altes Testament an der Universität Wien. Er ist mir in den letzten Jahren durchaus positiv aufgefallen, weil er sich aus exegetischer Perspektive in verschiedenene heiße Debatten der Gegenwart, so z. B. die Gender-Thematik und Homosexualität, eingeschaltet hat und hier - ich würde fast sagen gut katholische - Positionen vertreten hat, die so im Mainstream der Exegeten eher nicht vorkommen. bearbeitet 8. Januar von Studiosus 1 Zitieren
Jakobgutbewohner Geschrieben 8. Januar Melden Geschrieben 8. Januar vor 4 Stunden schrieb SteRo: Meine Voreingenommenheit Hier ging es wohl eher um "Wissenschaften", um Grundsätzlicheres. Wobei ich anfangs hier auch gar nicht auf einen Text von dir geantwortet hatte. Zitieren
Weihrauch Geschrieben 9. Januar Melden Geschrieben 9. Januar vor 3 Stunden schrieb Studiosus: Ich will an dieser Stelle gar nicht über das Hohelied streiten. Ich will auch nicht streiten. Ein wohlgesonnener und fairer Gedankenaustausch sollte aber möglich sein. vor 3 Stunden schrieb Studiosus: In der neueren Exegese geht die Tendenz eindeutig weg von der typologisch-allegorischen Deutung und hin zu dem, was man vielleicht eine Sammlung eher weltlicher Liebeslieder nennen könnte. So nehme ich das auch wahr - aber - man kann auch auf der anderen Seite des Pferdes herunterfallen. vor 3 Stunden schrieb Studiosus: Da die Diskussion aber wieder aufgemacht wurde ... Ich konnte die Diskussion nicht weiterführen, da ich im Krankenhaus lag. vor 3 Stunden schrieb Studiosus: und es mich dann doch interessiert hat, habe ich die Einleitung von Zenger hervorgeholt und bin darin auf den, wie ich finde, sehr ausgewogenen Artikel von Ludger Schwienhorst-Schönbeger* gestoßen. Und ich war überrascht, dass hier doch zumindest Teile auch meiner Kritik zumindest zur Sprache kommen. Ich darf in kurzen Auszügen zitieren: Bin gespannt, da ich nur die Einleitung aus dem StATNT (Zenger, Erich / Merklein, Helmut (Hg.): Stuttgarter Altes und Neues Testament, Stuttgart 2007) kenne. vor 3 Stunden schrieb Studiosus: Mit Blick auf die Theologie des Hoheliedes schreibt Schwienhorst-Schönberger unter der Zwischenüberschrift "Ohne Gott?" Folgendes: "Das im Hinblick auf die Frage nach der Theologie des Hld im Kontext der neuzeitlichen Bibelkritik immer wieder reflektierte Problem lässt sich mit C. Kuhl so umschreiben: 'Es fehlt im Hld schlechterdings jeder religiöser Gedanke; ja, das ganze Buch ist von der ersten bis zur letzten Zeile so ohne Gott und ohne jede Religion..., dass man um die Frage nicht herumkommt, wie konnte dieses Buch überhaupt kanonisiert und sogar den Megillot zugewiesen werden' (C. Kuhl, Das Hohelied 141)" (Zenger, Einleitung, 483) Genau so ging es mir anfangs auch: Wo ist da Gott drin? Aber wieso geht es nicht ohne diese Schlagworte: neuzeitliche Bibelkritik? Da braucht man doch gar nicht mehr weiterreden, da ist der Kas doch schon bissen, bei so einem verheerenden Vorurteil, als wollte die Bibelwissenschaft die biblischen Texte nicht verstehen, sondern nur kritisieren. vor 3 Stunden schrieb Studiosus: Das ist doch schonmal eine interessante Frage, die Schwienhorst-Schönberger vermittelt über Kuhl hier aufs Tableau bringt. Ich habe sie vor einiger Zeit hier ebenfalls, wenn auch in leicht anderer Stoßrichtung, gestellt. Wenn es sich beim Hohelied tatsächlich lediglich um eine Sammlung von Liebesliedern, teils mit erotischen Anklängen, handelt, und es auch so, d. h. ohne eine im engeren Sinne theologische Zwischenebene, intendiert war, dann drängt sich nicht nur die Frage auf, warum diese Schrift in den hebräischen Kanon aufgenommen wurde ... "Teils mit erotischen Anklängen?" Welche anderen Teile ohne erotische Anklänge? Zitate bitte. Das ist halt zunächst die Frage, ob es nicht doch mit einer im engeren Sinne theologische Zwischenebene intendiert war. Das diese Zwischenebene nicht wahrgenommen wurde, bedeutet nicht, dass es sie im Hld nicht gibt. Das ist mir so oft so gegangen, dass ich etwas zuerst nicht wahrgenommen habe, und manchmal musste ich lange in den Kontexten graben, bis ich es dann endlich wahrgenommen habe. Das ist doch aber ganz normal, oder nicht? Wenn etwas intendiert sein könnte, muss man von den Verfassern, Autoren und Redaktoren ausgehen, denn die sind die einzigen, die da etwas intendiert haben könnten. Das ist z.B. ein Punkt den ich an den Bibelwissenschaften kritisiere, wo ich ihnen nicht folgen kann. Dieses fast schon irgendwie zwanghafte Zerhacken der Texte, in Schichten, Autoren, Schulen usw. So nimmt man sich die Möglichkeit weiter auseinanderliegende Zusammenhänge und rote Fäden zu erkennen. Da bin ich prinzipiell bei Ratzinger mit der kanonischen Exegese. Er war schon ein kluger Kopf. Dachte nicht, dass ich so etwas je über meine Lippen bringen würde. Allerdings gehe ich beim AT, anders als Ratzinger, vom jüdischen Kanon und nicht vom christlichen Kanon aus, weil es das Christentum noch lange nicht gab, als das Hohelied verfasst wurde, und siehe da, auf einmal ist Gott im Hohelied drin, und nicht draußen. Das Hohelied entpuppt sich als Kommentar zu Gen 1,2 und 3 wenn man sich die berechtigte Frage stellt, wieso Schullamit ihren geliebten Salomo unbedingt in das Haus ihrer Mutter führen will? Warum? Gräbt man etwas Tiefer in den Kontexten landet man irgendwann bei diesem von Gott gegebenen Gesetz ... Zitat Dtn 22,28-29 Wenn ein Mann einem unberührten Mädchen, das noch nicht verlobt ist, begegnet, sie packt und sich mit ihr hinlegt und sie ertappt werden, soll der Mann, der bei ihr gelegen hat, dem Vater des Mädchens fünfzig Silberschekel zahlen und sie soll seine Frau werden, weil er sie sich gefügig gemacht hat. Er darf sie niemals entlassen. ... und all die oben gestellten, berechtigten Fragen, finden ihre Antworten ganz allein in den alttestamentlichen Texten, wenn man den Fehler vermeidet, das Lied der Lieder für sich alleine zu betrachten, und die größeren Zusammenhänge nicht aus den Augen verliert. Jetzt ergibt alles einen logischen Sinn, man weiß, dass Gott drin ist, warum dieses Buch in den Kanon aufgenommen worden ist, warum Schulammit ihren Salomo unbedingt in der Kammer ihrer Mutter haben möchte. Gibt es einen besseren Platz, um sich "dabei" ertappen zu lassen, nicht von irgendwem, irgendwo, sondern von jemandem den es etwas angeht, der dann nicht mehr mit dem Klassenunterschied reicher König / arme Hirtin argumentieren kann, wenn diese Liebe ein offiziell gewordenes Faktum ist, und es obendrein dem im Gesetz hinterlegten Willen Gottes entspricht? vor 4 Stunden schrieb Studiosus: , sondern noch viel mehr, warum die frühe Kirche das Hohelied nicht verworfen, sondern es explizit als Teil der Offenbarung, als inspirierte Schrift, rezipiert und anerkannt hat. Und da kommt die allegorische Interpretation ins Spiel. Hier ist deutlich zu machen, dass die allegorische Deutung eben gerade keine Erfindung, keine Verlegenheitslösung der Christen war, sondern fest in der jüdischen Tradition verankert ist. Hierzu führt Schwienhorst-Schönberger aus: Ja eben, weil es fest in der jüdischen Tradition verankert ist. Die eigene Tradition kann man notfalls "anpassen". Eine fremde Tradition, noch dazu eine die nicht untergegangen, sondern höchst lebendig ist, nicht. vor 4 Stunden schrieb Studiosus: "Im Judentum reicht das allegorische Verständnis bis in die 2. Hälfte des 1. Jh.s v. Chr. zurück. Es zeigt sich heute noch darin, dass das Hld als Festrolle beim Pessach-Fest gelesen wird, jenem Fest, das die Befreiung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens feiert. Die Kirche hat das allegorische Verständnis des Hld vom Judentum übernommen und weiter entfaltet [...]." (Zenger, Einleitung, 484) Nicht das ich das glauben würde, aber wenn das allegorische Verständnis im Judentum NUR bis in die 2. Hälfte des 1. Jh. v. Chr. zurückreicht (wo hast du diese Zeitangabe her?), können die Verfasser des Hld. keine Allegorie verfasst haben, da das Hld viel früher verfasst wurde: Zitat StATNT (Zenger, Erich / Merklein, Helmut (Hg.): Stuttgarter Altes und Neues Testament, Stuttgart 2007) Für die Entstehungszeit des Hld werden drei Möglichkeiten in Erwägung gezogen: 1. die frühe Königszeit (10./9. Jh. v.Chr.), insbesondere die salomonische Epoche mit ihrem neu erwachten Sinn für das Psychologische (»salomonischer Humanismus«) und ihren regen Beziehungen zu Ägypten, wo es bereits eine reich entwickelte Liebesdichtung gab; 2. die mittlere Königszeit (8.-6. Jh. v.Chr.), insbesondere die Zeit König Hiskijas, in der es im Südreich Juda zu bedeutenden literarischen Aktivitäten kam (vgl. Spr 25,1) und altorientalische Motive in Palästina eine letzte Blütezeit erlebten; 3. die persisch-hellenistische Zeit (5.-3. Jh. v.Chr.). Bitte nicht ablenken. Du beginnst die Dinge auf den Kopf zu stellen. Du hast oben weder nach dem jüdischen noch nach dem christlichen Verständnis, sondern nach der Intention der Verfasser gefragt. Die Verfasserintention richtet sich nicht nach dem Verständnis irgendwelcher späteren Leser, sondern geht diesem voraus. vor 4 Stunden schrieb Studiosus: Auch darüber, den manchmal auch nur vermeintlichen Gegensatz zwischen jüdischer und christlicher Auslegung, hatten wir hier schon gesprochen. Nun bin ich niemand, der zwingend der jüdischen Auslegung als der "ursprünglicheren" das Wort redet, aber wenn man wollte, könnte man dieses Argument gegen die heute durchschlagende anti-typologische und anti-allegorische Interpretation ins Feld führen. Wenn das Volk, dem diese Schriften zuerst gehörten, schon den allegorischen Sinn erkannte und theologisch und kultisch auswertete, wie sollte man dann guten Gewissens sagen können, die Kirche sei darin fehlgegangen, diesen Sinn festzuhalten und weiterzuentwickeln? Falls da kein allegorischer Sinn im Hld ist, kann ihn auch niemand erkennen. Du wiederholst die Behauptung nur mit anderen Worten. Man kann den Sinn von Texten nicht nur erkennen, sondern auch missverstehen. Das ist doch die Frage um die es geht, ob das Hld eine Allegorie ist, oder nicht, ob die Verfasserintention eine Allegorie intendiert, oder nicht. Wenn die jüdischen Leser den Text missinterpretierten, muss man wohl guten Gewissens sagen können, dass die Kirche darin fehlgegangen sei, diesen Sinn festzuhalten und weiterzuentwickeln. Verfasserintention und Auslegung sind zwei paar Stiefel. Ürsprünglich ist einzig die Intention, nicht die Auslegung, egal von wem. Hier wird von der Eingangsfrage nur weiter abgelenkt, und die Auslegung zur Verfasserintention gemacht, ohne eine Begründung dafür zu liefern. Am Ende wird so dann nicht mal die jüdische Auslegung sondern die weiter entfaltete christliche Auslegung zur Verfasserintention hochgejubelt. Es hat aber nicht jeder das katholische Lehramt zum alles entscheidenden Maßstab. vor 4 Stunden schrieb Studiosus: Da sehe ich eher die rezente Exegese in der Rechtfertigungspflicht, welche die Typologie und Allegorie als sekundäre, unsachgemäße, ja übergestülpte Deutungen zurückweist und den profan-romantischen Sinn fast ausschließlich vertritt. Dass dieser Befund auch nach der Binnenlogik der modernen Exegese nicht trägt, zeigt Schwienhorst-Schönberger an anderer Stelle und damit will ich es auch erst einmal bewenden lassen: Da bin ich doch wieder ganz bei dir, dass hier ins andere Extrem verfallen wird. Mein Lösungsvorschlag würde da einen logisch nachvollziehbaren Mittelweg anbieten. Die von Gott dem Menschen geschenkte erotische Lust, als in den Menschen von Gott eingebaute Triebfeder der Fruchtbarkeit, damit der Mensch ein Fleisch werde, und so Nachkommen Gottes zeugt und gebiert. Als Kinder Gottes verstehen sich die Juden, und wir Christen auch, wenn auch anders, nicht völkisch sondern völkerübergreifend. vor 4 Stunden schrieb Studiosus: "Die allegorische und kultische Interpretation des Hld werden oft als ein Versuch kritisiert, der angeblich so profanen Sammlung von Liebesliedern einen theologischen Sinn abzugewinnen, der jedoch vom Text selbst her nicht gedeckt sei. Zurecht weil eben keine textinternen Indikatoren gegeben sind, die auf eine Allegorie hindeuten. vor 4 Stunden schrieb Studiosus: Doch wird man schon allein aus literatursemiotischer Sicht die allegorische Interpretation nicht mehr grundsätzlich als falsch bewerten können. [...] Doch weil es keine literatursemiotischen, textinternen Indikatoren für eine Allegorie im Text gibt. Es sei denn du oder sonstwer zeigt sie konkret anhand des Textes, statt das immer nur ohne Beleg zu behaupten. Es gibt aber sehr wohl ein literatursemiotisches Signal im Lied der Lieder: die Kammer der Mutter. Sie lenkt den Leser auf das textexterne Gesetz Gottes in Dtn 22,28-29, welches den Schlüssel zum Verständnis liefert, a) der Kammer der Mutter, dem besten Platz zum Ertapptwerden in flagranti und stellt somit b) den Bezug zu Gen 3 her, und erklärt, warum Gott in Gen 3 mal kurz weg ist, und gerade rechtzeitig zu spät wieder auf der Bildfläche erscheint. Ich kenne keine Auslegung, welche das Verschwinden und Wiederauftauchen Gottes vernünftig erklärt. Um mit Elia zu reden: musste Gott mal austreten? Ich kenne keine Stelle im AT, wo Gott irgendetwas nicht mitbekommen hätte. Hier ergibt dieser Move Gottes im Zuge der literarischen Dramaturgie einen theologisch nachvollziehbaren Sinn: Stört die Liebe nicht, ehe sie es will. Läuft. vor 4 Stunden schrieb Studiosus: In jüngerer Zeit mehren sich die Stimmen, die für ein ursprüngliches, vom Autor intendiertes symbolisch-allegorisches Verständnis plädieren [...]. Nach M. Gerhards gehört das genuin theologische Verständnis des Hld, wie es sich in der geistigen Deutung der jüdischen und christlichen Tradition herausgebildet hat, zur ursprünglichen Bedeutung des Textes." (Zenger, Einleitung, ebd.) Immer wieder das Gleiche behaupten, indem man die Dinge auf den Kopf stellt, und behauptet, dass diese Auslegung die Verfasserintention sei, nach der gefragt wurde. Das ist doch keine Begründung für die Behauptung, sondern wieder die Behauptung mit anderen Worten. Das "genuin theologische Verständnis des Hld." ist bloß die verzweifelte Wiederholung der Behauptung, der angeblich ursprünglichen Bedeutung des Textes. Genuin bedeutet nichts anderes als ursprünglich. Das ursprüngliche christliche Verständnis soll also genau so ursprünglich wie die jüdische Verfasserintention sein? Was wurde oben noch behauptet? "Die Kirche hat das allegorische Verständnis des Hld vom Judentum übernommen und weiter entfaltet." Ein übernommenes und entfaltetes Verständnis des Hld kann nicht genuin und nicht ursprünglich mit der Verfasserintention sein. Wie naiv muss man sein, anzunehmen, dass ein aufmerksamer Leser diesen Widerspruch in der Argumentation nicht merken würde? Rhetorik ist kein Ersatz für Argumente. Sich selbst widersprechende Rhetorik ist nicht mal gute Rhetorik. Zitieren
Studiosus Geschrieben 9. Januar Melden Geschrieben 9. Januar (bearbeitet) vor 57 Minuten schrieb Weihrauch: Ich konnte die Diskussion nicht weiterführen, da ich im Krankenhaus lag. Ich hoffe, es geht Dir wieder gut. Und zum Hohenlied: Ich wollte mich, u. a. durch die Diskussionen hier im Forum angeregt, vor allem selbst einmal darüber auf den sozusagen neuesten Stand bringen, was die akademische Bibelwissenschaft zum Hohenlied sagt. Das ging am umstandslosesten durch die Einleitung von Zenger et al., die uns am Beginn des Studiums im Alten Testament empfohlen wurde und die ich seitdem hier habe (die Auflage müsste ich nachsehen, aber wahrscheinlich nicht wesentlich älter als 10 Jahre). Ich selbst reklamiere für mich kein Wissen, das über die Ausführungen von Schwienhorst-Schönberger hinausgeht, daher habe ich auch nur referiert und die entsprechenden Direktzitate kenntlich gemacht. Und auch Schwienhorst-Schönberger referiert ja ausgiebig andere Exegeten (alles kann ich hier aus rechtlichen Gründen gar nicht abtippen); auch für die Aussagen, die Du kritisierst. Also ganz randständig in der wissenschaftlichen Debatte scheint mir das Interpretationsangebot für das Hohelied, das er macht, somit nicht zu sein. Dass er auch einige Punkte stark macht, die ich ohne vorherige Lektüre seines Beitrags auch schon zumindest im Ansatz vermutet hatte, ist eine positive Überraschung, aber mehr auch nicht. [Vieles andere, so etwa die historische Genese des Hoheliedes als Text, steht, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, bei Schwienhorst-Schönberger der Sache nach übrigens ganz ähnlich oder genauso wie von Dir dargestellt. In diesen Punkten scheint es keine größeren Abweichungen, sondern Konsens zu geben] Mir geht es auch nicht darum, wer hier jetzt recht hat. Es war mehr eine Stichprobe, um einmal zu prüfen, ob der Befund der wissenschaftlichen Exegeten wirklich immer so uniform und eindeutig ist, wie man vielleicht manchmal annimmt. Und zumindest in diesem Fall wurde ich positiv überrascht. Ob einen das alles überzeugt, darauf läuft ja deine Antwort hinaus, ist natürlich eine andere Frage, um die es mir an dieser Stelle nicht vorrangig geht (allein schon deshalb, weil ich wie angedeutet über keine Spezialkenntnisse verfüge, die es mir ermöglichen, den Autor sachkundig zu widerlegen, wenn ich das wollte). Mir erscheinen seine Ausführungen nachvollziehbar. Als Substrat dieses kurzen Ausflugs in die Literatur wäre mir lediglich wichtig, festzuhalten, dass die Aussage, die moderne wissenschaftliche Exegese sei sich einig darüber, dass das Hohelied keine allegorische Ebene besitze, die ihm nicht nachträglich und gegen die ursprüngliche Intention des Textes aufoktroyiert wurde, in dieser Absolutheit nicht den differenzierteren Diskursstand der Fachwissenschaft widergibt. bearbeitet 9. Januar von Studiosus 1 Zitieren
Jakobgutbewohner Geschrieben 9. Januar Melden Geschrieben 9. Januar (bearbeitet) Am 7.1.2025 um 19:59 schrieb iskander: Wenn man keinem Szientismus verfallen möchte, der von vornherein alle menschlichen Erfahrungen, die nicht (natur)wissenschaftlich einzuordnen sind, de facto für obsolet erklärt, wird man eine gewisse Vorsicht walten lassen müssen, Erfahrungen, die nicht intersubjektiv erforschbar sind, von außen mit einem Höchstmaß an Gewissheit beurteilen zu wollen. Wie kommst du auf "nicht intersubjektiv erforschbar"? Am 7.1.2025 um 22:13 schrieb KevinF: Und letztlich muss jeder selbst wissen, ob er glauben möchte, dass er aufgrund wundersamer Erfahrungen im Besitz eines Geheimwissens ist, das der Rest der Menschheit nicht hat. Wieso "der Rest der Menschheit nicht hat"? Es gibt ja durchaus hier und dort Ähnlichkeiten in solchem Erfahren (wenn auch nicht generell). bearbeitet 9. Januar von Jakobgutbewohner Zitieren
Weihrauch Geschrieben 9. Januar Melden Geschrieben 9. Januar vor 10 Stunden schrieb Studiosus: Ich hoffe, es geht Dir wieder gut. Danke, geht schon wieder. Der stationäre Teil ist erledigt, jetzt geht es ambulant weiter. vor 10 Stunden schrieb Studiosus: Und zum Hohenlied: Ich wollte mich, u. a. durch die Diskussionen hier im Forum angeregt, vor allem selbst einmal darüber auf den sozusagen neuesten Stand bringen, was die akademische Bibelwissenschaft zum Hohenlied sagt. Das ging am umstandslosesten durch die Einleitung von Zenger et al., die uns am Beginn des Studiums im Alten Testament empfohlen wurde und die ich seitdem hier habe (die Auflage müsste ich nachsehen, aber wahrscheinlich nicht wesentlich älter als 10 Jahre). Als Katholik liegt es nahe, sich bei katholischen Bibelwissenschaftlern zu informieren. Ich hoffe, dass Schwienhorst-Schönberger mit "neuzeitlichen Bibelkritik" nicht den Rest der akademischen Bibelwissenschaft meint. Mich interessieren die Argumente und Begründungen der akademischen Bibelwissenschaften, auch dann wenn ihre Ergebnisse nicht meinem Gusto entsprechen, und es ist mir egal aus welcher theologischen Ecke sie kommen. Ich habe da keine Favoriten und keine die ich grundsätzlich ablehne. Ich lerne gerne, ich denke gerne um, aber dafür brauche ich Argumente, Begründungen, Belege. Nach dem ich gelesen habe, was du zitiert hattest, fühlt es sich so an, als stünde ich mit leeren Händen da. vor 10 Stunden schrieb Studiosus: Ich selbst reklamiere für mich kein Wissen, das über die Ausführungen von Schwienhorst-Schönberger hinausgeht, daher habe ich auch nur referiert und die entsprechenden Direktzitate kenntlich gemacht. Und auch Schwienhorst-Schönberger referiert ja ausgiebig andere Exegeten (alles kann ich hier aus rechtlichen Gründen gar nicht abtippen); auch für die Aussagen, die Du kritisierst. Das ist normal, ist halt ein Diskurs. Man argumentiert mit X gegen Y oder zieht Z heran, um den eigenen Standpunkt zu stützen. vor 10 Stunden schrieb Studiosus: Also ganz randständig in der wissenschaftlichen Debatte scheint mir das Interpretationsangebot für das Hohelied, das er macht, somit nicht zu sein. Das habe ich ja auch nicht behauptet. Ich habe nur gesagt, was mir dazu eingefallen ist, wo ich mitgehen kann, und warum, und wo nicht, und warum nicht. Ich habe kein Problem mit den vielen allegorischen Deutungen des Hoheliedes. Ich kenne sie, da komme ich her, und kann sie daher sehr gut nachvollziehen. Ich schätze ihren Wert für den Glauben und die Frömmigkeit der Menschen hoch ein. Aber mich interessiert eben auch die Verfasserintention, weil ich auch dessen Glaube und Frömmigkeit nachvollziehen und wertschätzen möchte. Ich vertrete meine Meinung zu dieser Fragestellung, und die ist ganz sicher randständig. Um meine Meinung anhand des Textes zu begründen, muss ich ganz nah am Text und Kontext bleiben, und damit argumentieren. Ich kann ja alles mögliche behaupten, wenn ich es nicht in den Texten aufzeigen kann, bleiben es nur Behauptungen. vor 18 Stunden schrieb Studiosus: "Die allegorische und kultische Interpretation des Hld werden oft als ein Versuch kritisiert, der angeblich so profanen Sammlung von Liebesliedern einen theologischen Sinn abzugewinnen, der jedoch vom Text selbst her nicht gedeckt sei. Doch wird man schon allein aus literatursemiotischer Sicht die allegorische Interpretation nicht mehr grundsätzlich als falsch bewerten können. [...] Ich weiß nicht, ob da [...] die literatursemiotischen Signale im Text explizit gezeigt werden, diese textimmanenten Indikatoren, die den Leser auf ein allegorisches Verständnis oder wenigstens zu Gott im Text des Hoheliedes hinlenken sollen. Das wären dann die nachvollziehbaren Begründungen und Belege für diese Behauptung. Die kenne ich leider nicht, deshalb frage ich ja dauernd danach. Wenn es sie gibt, werde ich meine Meinung ändern. Wieder was dazu gelernt, das ich vorher nicht wusste, und alles ist gut - aber [...] lässt mich mit leeren Händen zurück. Ich weiß, dass ich nicht viel zu bieten habe: "die Kammer der Mutter" ist aber wenigsten etwas Greifbares im Text, eine kleine Hintertür durch die Gott in das Hohelied kommt, und ich dieser Aussage etwas theologisches entgegensetzen kann. Dass es die Theologie der Verfasser des Hoheliedes wiederspiegelt, sollte niemanden überraschen, was anderes ist nicht zu erwarten: vor 12 Stunden schrieb Weihrauch: Es fehlt im Hld schlechterdings jeder religiöser Gedanke; ja, das ganze Buch ist von der ersten bis zur letzten Zeile so ohne Gott und ohne jede Religion... Nur weil es nicht unserer christlichen Religion entspricht, ist das Hohelied nicht unbedingt ohne Gott und ohne jede Religion. Ist halt die jüdische Religion, aus der das Christentum entstanden ist. Das ist weder neu, noch unerhört und auch kein Drama. vor 10 Stunden schrieb Studiosus: Dass er auch einige Punkte stark macht, die ich ohne vorherige Lektüre seines Beitrags auch schon zumindest im Ansatz vermutet hatte, ist eine positive Überraschung, aber mehr auch nicht. [Vieles andere, so etwa die historische Genese des Hoheliedes als Text, steht, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, bei Schwienhorst-Schönberger der Sache nach übrigens ganz ähnlich oder genauso wie von Dir dargestellt. In diesen Punkten scheint es keine größeren Abweichungen, sondern Konsens zu geben] Über die Genese des Hoheliedes weiß ich nichts genaues. In meinem Zitat aus dem StATNT wurden verschiedene Ansichten über die Abfassungszeit nebeneinander gestellt. Die Genese eines Textes, ändert nichts an dem vorliegenden Endtext, und stellt selten eine Hilfe zum Verständnis dar, meist lenkt es vom Endtext nur ab, weil es die Kontexte und die Dramaturgie des Endtextes auseinander reißt. Verstehe mich nicht falsch. Sich mit der Genese der Texte zu beschäftigen ist nicht sinnlos, richtig spannend, und kann aufschlussreich sein, aber was nutzt es mir, wenn ich beispielsweise J gegen P und E ausspiele, statt mich auf den Endtext zu konzentrieren - der ist doch, was ich lese und was ich zu verstehen trachte? Ich gehe davon aus, dass sich die Endredaktion etwas dabei dachte, die vorliegende Version als ein Ganzes, Zusammenhängendes, mit einer durchgängigen Dramaturgie zu verantworten. Das AT ist meiner Meinung nach keine Bibliothek in der verschieden Bücher nebeneinander stehen. Das hat hauptsächlich praktische Gründe gehabt, weil eine Schriftrolle, die das ganze AT enthält, einfach unhandlich wäre. Warum nicht "die Bücher" als Kapitel eines Buches oder einer Schriftrolle wahrnehmen? Ich denke aus dieser Perspektive auf das AT zu blicken, macht vieles klarer. Wenn man die Anordnung der "Kapitel", nach dem ursprünglichen Kanon anordnet, kommt man zu einer genuin kanonischen Exegese im Sinne der Endredaktion. Wenn man die "Kapitel" anders anordnet, als die Endredaktion, zerstört man die intendierte Dramaturgie. Wer die Dramaturgie eines Werkes aushebelt, kann das Werk nicht mehr angemessen verstehen. Eigentlich ist das banal. vor 10 Stunden schrieb Studiosus: Mir geht es auch nicht darum, wer hier jetzt recht hat. Mir auch nicht. Dialoge können das Bewusstsein aller Beteiligten erweitern. Zitieren
Cosifantutti Geschrieben 10. Januar Melden Geschrieben 10. Januar Ich finde die "Alternative" entweder Literalsinn oder Allegorie eine Scheinalternative. Gerade literarische Texte sind sehr oft "offen" für verschiedene Ebenen der Interpretation, man denke nur an die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten / -ebenen bei den Texten von Kafka...... Auch die allegorische Auslegung des Hohenliedes macht Sinn, ist sehr faszinierend und inspirierend.... gerade für die Beschreibung der Beziehungsebene zwischen Gott und dem Menschen / Gott und der "Seele"..... auch das Bild von Christus als dem Freund / Bräutigam zieht sich wie ein roter Faden durch die mystische Tradition ( "Wie schön leuchtet der Morgenstern...." ). Bachs Matthäuspassion endet im ersten Teil an der Stelle im Garten Getsemane, wo alle Jünger flohen.... ..... der zweite Teil beginnt mit einer Anspielung auf das Hohelied: "Wo ist mein Freund hingegangen.... wir wollen ihn suchen...." Es bleibt dennoch die Anmerkung: Die Kirche hat sich in ihrer Sexualmoral sehr wenig von den erotischen Liebesgedichten des Hoheliedes inspirieren lassen ( "Literalsinn" ) und hat bis heute dem Augustinus ein viel zu großes Mitspracherecht in Sachen Sexualität eingeräumt mit dem Ergebnis, dass katholische Sexualmoral über weite Strecke als "Verbotsmoral" wahrgenommen wird..... und zwischen der "offiziellen" katholischen Sexualmoral und der Atmosphäre des Hoheliedes Welten liegen. Noch eine Bemerkung zur Auslegung von Texten: Wenn es allgemeiner Konsens ist, dass man stets vom Literalsinn als erster Ebene des Verstehens von Texten ausgehen sollte, so bedeutet das aus meiner Sicht gerade nicht, dass etwa die ersten elf Kapitel der Bibel ( Schöpfungsberichte / Paradies - Sündenfall - Brudermord - Sintflut - Turmbau zu Babel ) auf der Ebene des Literalsinnes so zu verstehen seien, als wären das Beschreibungen eines realen historischen Geschehens, so als hätte es in der Menschheitsgeschichre eine im chronologischen Sinne "Realzeit" gegeben, wo die Menschheit "real" "im Paradies" gelebt hätten und dann zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt aus diesem Paradies vertrieben worden seien. Denn wenn man diese ersten Kapitel des Buches Genesis als in irgend einer Form "historisches Geschehen" versteht, hat man gerade den Literalsinn verfehlt, da man die entsprechende literarische Gattung vollkommen ignoriert. Was die literarische Gattung angeht, so herrscht doch wohl Einigkeit darüber, dass es bei der Erzählung vom Sündenfall - Vertreibung aus dem Paradies - Sintflutgeschichte - um mythologische Erzählungen handelt, die gerade als mythologische Erzählungen keine historischen Berichte sein wollen.... Zitieren
Weihrauch Geschrieben 10. Januar Melden Geschrieben 10. Januar (bearbeitet) vor 1 Stunde schrieb Cosifantutti: Noch eine Bemerkung zur Auslegung von Texten: Wenn es allgemeiner Konsens ist, dass man stets vom Literalsinn als erster Ebene des Verstehens von Texten ausgehen sollte ... Da bin ich ziemlich deiner Meinung - aber - "dass man stets vom Literalsinn als erster Ebene des Verstehens von Texten ausgehen sollte ..." bedeutet doch, dass dem die zweite Ebene des Verstehens von Texten folgen müsste - falls es so eine Ebene tatsächlich geben sollte. Welche sollte das in der Urgeschichte sein? vor 1 Stunde schrieb Cosifantutti: ... so bedeutet das aus meiner Sicht gerade nicht, dass etwa auf der Ebene des Literalsinnes so zu verstehen seien, als wären das Beschreibungen eines realen historischen Geschehens, so als hätte es in der Menschheitsgeschichre eine im chronologischen Sinne "Realzeit" gegeben, wo die Menschheit "real" "im Paradies" gelebt hätten und dann zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt aus diesem Paradies vertrieben worden seien. Jain. Erstens warum bedeutet es das nicht? Was deutet im Text darauf hin, dass es das nicht bedeutet? Da sind wir wieder bei den textimmanenten Indikatoren bzw. literatursemiotischen Signalen, die auf eine Allegorie hinweisen müssen. Sonst wäre der Willkür der Ausleger Tür und Tor geöffnet. Zweitens, wenn es das nicht bedeutet, was bedeutet es dann? Dieser zweite Schritt muss folgen, nur zu sagen was es nicht bedeutet, genügt nicht. vor 1 Stunde schrieb Cosifantutti: Denn wenn man diese ersten Kapitel des Buches Genesis als in irgend einer Form "historisches Geschehen" versteht, hat man gerade den Literalsinn verfehlt, da man die entsprechende literarische Gattung vollkommen ignoriert. Was die literarische Gattung angeht, so herrscht doch wohl Einigkeit darüber, dass es bei der Erzählung vom Sündenfall - Vertreibung aus dem Paradies - Sintflutgeschichte - um mythologische Erzählungen handelt, die gerade als mythologische Erzählungen keine historischen Berichte sein wollen.... Ja schon, aber hier ist es doch wieder das Gleiche. Mythologische Erzählungen wollen keine historischen Berichte sein. Das also nicht. Was aber dann? Wieder genügt es nicht zu sagen, was es nicht ist. Man muss sagen was es ist, und was es bedeuten soll, wenn der Literalsinn nicht der eigentliche Sinn ist. Dazu will ich noch etwas genauer eingehen: vor 1 Stunde schrieb Cosifantutti: dass etwa die ersten elf Kapitel der Bibel ( Schöpfungsberichte / Paradies - Sündenfall - Brudermord - Sintflut - Turmbau zu Babel ) Du sprichst zurecht von der Textgattung Mythos, aber die ersten elf Kapitel der Bibel kann man nicht über den einen Textgattungskamm Mythos scheren. In den ersten elf Kapiteln gibt es eine Reihe ganz unterschiedlicher, sagen wir mal, Textsorten bzw. Tropen. Jede Textsorte unterscheidet sich von einer anderen durch ganz bestimmte textimmanente Indikatoren bzw. literatursemiotische Signale die sie zu der Texsorte machen, die sie ist. Gen 1 ist eine andere Textsorte als Gen 2 und 3, die Stammbäume sind wiederum eine andere Textsorte, und der Stammbaum des Kain unterscheidet sich vom Stammbaum Adams durch textimmanente Indikatoren bzw. literatursemiotische Signale, und so geht es in den ersten elf Kapiteln munter weiter, die Textsorten geben sich in der Urgeschichte gegenseitig die Klinke in die Hand. Von der jeweiligen Textsorte hängt natürlich der Zugang zur zweiten Ebene des Verständnisses und damit auch die Akkuratesse einer Auslegung ab. Welchen Sinn muss ich daraus ableiten, dass im Stammbaum Adams ganz bestimmte literatursemiotische Signale vorhanden sind, die im Stammbaum des Kain nicht vorhanden sind? Um es mal an diesem einfachen Beispiel klar zu machen, weil sich vielleicht nicht jeder unter textimmanenten Indikatoren bzw. literatursemiotischen Signalen etwas vorstellen kann: XXX war YYY Jahre alt Nachdem XXX ZZZ gezeugt hatte, lebte er noch YYY Jahre und zeugte Söhne und Töchter. Die gesamte Lebenszeit XXX betrug YYY Jahre, dann starb er. XXX war YYY Jahre alt Nachdem XXX ZZZ gezeugt hatte, lebte er noch YYY Jahre und zeugte Söhne und Töchter. Die gesamte Lebenszeit XXX betrug YYY Jahre, dann starb er. usw. Dieses Muster, welches sich ständig in Adams Stammbaum wiederholt, ist solch ein textimmanenter Indikator oder ein literatursemiotisches Signal, das im Stammbaum des Kain fehlt. Dieses Signal teilt uns etwas mit, was nicht auf der ersten Ebene des Verständnisses ersichtlich ist, denn zuerst muss man dieses Muster überhaupt erst mal bemerken, und sich dann überlegen, was das zu bedeuten hat. Dieses Signal erhebt Adams Stammbaum in den Rang eines offiziellen Dokumentes, es erscheint so, als hätte da jemand ein Formular mit unterschiedlichen Namen ausgefüllt. Tatsächlich gibt es noch einen weiteren Indikator der im Stammbaum des Kain fehlt. Das ist das Wort toledot (=Nachkommen) am Anfang eines solch offiziellen Formulares. Deswegen spricht man von der Toledot-Formel. Sinn des Ganzen ist, den Stamm des Kain theologisch abzuwerten (Fremdvolk) und den Stamm des Adam theologisch aufzuwerten (Volk Gottes). Ich stimme dir zu, dass Textgattung bzw. Textsorte ausschlaggebend für eine korrekte Deutung oder Auslegung sind. Deswegen ist es eben nicht unerheblich, ob das Hohelied zur Textsorte (Trope) der Allegorie gehört oder nicht, was man an ganz bestimmten textimmanenten Indikatoren oder ganz bestimmten literatursemiotischen Signalen die einer Allegorie eigen sind, feststellen kann. Sind sie da, ist es eine Allegorie, fehlen sie, ist es keine Allegorie. Es ist wie bei den beiden Stammbäumen. Ist die Toledot-Formel da wie bei Adam, oder nicht, wie bei Kain. Kains Stammbaum kann man nicht in gleicher Weise interpretieren, wie die Stammbäume mit Toledot-Formel: Gen 2,4 Toledot des Himmels und des Landes Gen 5,1 Toledot Adams Gen 6,9 Toledot Noachs Gen 10,1 Toledot der Söhne Noachs Gen 11,10 Toledot Sems Gen 11,27 Toledot Terachs usw. es gibt noch mehr. bearbeitet 10. Januar von Weihrauch Zitieren
Cosifantutti Geschrieben 10. Januar Melden Geschrieben 10. Januar vor 2 Stunden schrieb Weihrauch: Da bin ich ziemlich deiner Meinung - aber - "dass man stets vom Literalsinn als erster Ebene des Verstehens von Texten ausgehen sollte ..." bedeutet doch, dass dem die zweite Ebene des Verstehens von Texten folgen müsste - falls es so eine Ebene tatsächlich geben sollte. Welche sollte das in der Urgeschichte sein? Jain. Erstens warum bedeutet es das nicht? Was deutet im Text darauf hin, dass es das nicht bedeutet? Da sind wir wieder bei den textimmanenten Indikatoren bzw. literatursemiotischen Signalen, die auf eine Allegorie hinweisen müssen. Sonst wäre der Willkür der Ausleger Tür und Tor geöffnet. Zweitens, wenn es das nicht bedeutet, was bedeutet es dann? Dieser zweite Schritt muss folgen, nur zu sagen was es nicht bedeutet, genügt nicht. Ja schon, aber hier ist es doch wieder das Gleiche. Mythologische Erzählungen wollen keine historischen Berichte sein. Das also nicht. Was aber dann? Wieder genügt es nicht zu sagen, was es nicht ist. Man muss sagen was es ist, und was es bedeuten soll, wenn der Literalsinn nicht der eigentliche Sinn ist. Dazu will ich noch etwas genauer eingehen: Du sprichst zurecht von der Textgattung Mythos, aber die ersten elf Kapitel der Bibel kann man nicht über den einen Textgattungskamm Mythos scheren. In den ersten elf Kapiteln gibt es eine Reihe ganz unterschiedlicher, sagen wir mal, Textsorten bzw. Tropen. Jede Textsorte unterscheidet sich von einer anderen durch ganz bestimmte textimmanente Indikatoren bzw. literatursemiotische Signale die sie zu der Texsorte machen, die sie ist. Gen 1 ist eine andere Textsorte als Gen 2 und 3, die Stammbäume sind wiederum eine andere Textsorte, und der Stammbaum des Kain unterscheidet sich vom Stammbaum Adams durch textimmanente Indikatoren bzw. literatursemiotische Signale, und so geht es in den ersten elf Kapiteln munter weiter, die Textsorten geben sich in der Urgeschichte gegenseitig die Klinke in die Hand. Von der jeweiligen Textsorte hängt natürlich der Zugang zur zweiten Ebene des Verständnisses und damit auch die Akkuratesse einer Auslegung ab. Welchen Sinn muss ich daraus ableiten, dass im Stammbaum Adams ganz bestimmte literatursemiotische Signale vorhanden sind, die im Stammbaum des Kain nicht vorhanden sind? Um es mal an diesem einfachen Beispiel klar zu machen, weil sich vielleicht nicht jeder unter textimmanenten Indikatoren bzw. literatursemiotischen Signalen etwas vorstellen kann: XXX war YYY Jahre alt Nachdem XXX ZZZ gezeugt hatte, lebte er noch YYY Jahre und zeugte Söhne und Töchter. Die gesamte Lebenszeit XXX betrug YYY Jahre, dann starb er. XXX war YYY Jahre alt Nachdem XXX ZZZ gezeugt hatte, lebte er noch YYY Jahre und zeugte Söhne und Töchter. Die gesamte Lebenszeit XXX betrug YYY Jahre, dann starb er. usw. Dieses Muster, welches sich ständig in Adams Stammbaum wiederholt, ist solch ein textimmanenter Indikator oder ein literatursemiotisches Signal, das im Stammbaum des Kain fehlt. Dieses Signal teilt uns etwas mit, was nicht auf der ersten Ebene des Verständnisses ersichtlich ist, denn zuerst muss man dieses Muster überhaupt erst mal bemerken, und sich dann überlegen, was das zu bedeuten hat. Dieses Signal erhebt Adams Stammbaum in den Rang eines offiziellen Dokumentes, es erscheint so, als hätte da jemand ein Formular mit unterschiedlichen Namen ausgefüllt. Tatsächlich gibt es noch einen weiteren Indikator der im Stammbaum des Kain fehlt. Das ist das Wort toledot (=Nachkommen) am Anfang eines solch offiziellen Formulares. Deswegen spricht man von der Toledot-Formel. Sinn des Ganzen ist, den Stamm des Kain theologisch abzuwerten (Fremdvolk) und den Stamm des Adam theologisch aufzuwerten (Volk Gottes). Ich stimme dir zu, dass Textgattung bzw. Textsorte ausschlaggebend für eine korrekte Deutung oder Auslegung sind. Deswegen ist es eben nicht unerheblich, ob das Hohelied zur Textsorte (Trope) der Allegorie gehört oder nicht, was man an ganz bestimmten textimmanenten Indikatoren oder ganz bestimmten literatursemiotischen Signalen die einer Allegorie eigen sind, feststellen kann. Sind sie da, ist es eine Allegorie, fehlen sie, ist es keine Allegorie. Es ist wie bei den beiden Stammbäumen. Ist die Toledot-Formel da wie bei Adam, oder nicht, wie bei Kain. Kains Stammbaum kann man nicht in gleicher Weise interpretieren, wie die Stammbäume mit Toledot-Formel: Gen 2,4 Toledot des Himmels und des Landes Gen 5,1 Toledot Adams Gen 6,9 Toledot Noachs Gen 10,1 Toledot der Söhne Noachs Gen 11,10 Toledot Sems Gen 11,27 Toledot Terachs usw. es gibt noch mehr. Es ist vielleicht nicht sehr hilfreich, wenn man sogleich in die Diskussion von Einzel- und Spezialfragen einsteigt ohne sich zuvor über grundlegende Aspekte der vorliegenden Texte zu verständigen. Auf einer allerersten Ebene muss man sich doch darüber verständigen, wie die Texte ( hier Geneses Kapitel 1 - 11 ) grundsätzlich zu verstehen sind. Nehmen wir jetzt nur mal "Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies". Eine "fundamentalistische" Auslegung wird darauf bestehen, die Texte als "historische Berichte" zu verstehen in diesem Sinne: es gab in der Menschheitsgeschichte einmal eine Zeit, in der die Menschen im "Paradies" lebten und es gab dann - wiederum innerhalb der konkreten Menscheitsgeschichte - einen konkreten Zeitpunkt des "Sündenfalls" und der "Vertreibung des Paradieses.....die Grundkritik an solch einer "fundamentalistischen" Lesart geht davon aus, dass diese " fundamentalistische" Lesart gerade den Text im Ansatz vollkommen verfehlt, da es sich gerade nicht um einen historischen Bericht handelt, den man historisch irgendwo in der Geschichte der Menschheit einordnen kann, sondern eine ganz andere literarische Gattung vorliegt und ich - auf der Ebene des Literalsinnes - die Frage nach der literarischen Gattung nicht einfach ignorieren darf. Treten auf dieser alleresten Ebene, auf der Ebene des Literalsinnes und der Frage nach den literarischen Gattungen schon unüberbrückbare Differenzen auf, so ist eine weitere argumentative Verständigung eigentlich nicht mehr möglich. Zitieren
iskander Geschrieben 10. Januar Melden Geschrieben 10. Januar Am 7.1.2025 um 23:13 schrieb KevinF: Und letztlich muss jeder selbst wissen, ob er glauben möchte, dass er aufgrund wundersamer Erfahrungen im Besitz eines Geheimwissens ist, das der Rest der Menschheit nicht hat. Das folgende ist kein starkes Argument für die Glaubwürdigkeit solcher Erfahrungen, und das ist mir auch bewusst. Aber es scheint doch, dass viele "religiös"-spirituelle Erfahrungen einen gemeinsamen Kern haben, auch wenn sie gemäß der eigenen Kultur/Glaubensgemeinschaft interpretiert werden. Am 8.1.2025 um 17:31 schrieb Weihrauch: Obwohl die beiden, Schullamit und Salomo, jede Menge genüßlichen Outdoorsex miteinander haben, bei dem sie auf keinen Fall gestört werden wollen ... Heißen die beiden Schullamit und Salomo? Am 9.1.2025 um 12:46 schrieb Jakobgutbewohner: Wie kommst du auf "nicht intersubjektiv erforschbar"? Weil es Erfahrungen sind, zu denen eben nur derjenige einen echten Zugang hat, der sie hat. Wenn wir beide eine Vase sehen, nehme ich an, dass Du eine ähnliche visuelle Erfahrung hast wie ich. Insofern ist mir Deine Erfahrung - wenn auch indirekt und nur in einem bestimmten Sinne - zugänglich. Aber wenn Du eine "Transzendenz-Erfahrung" machst, kannst Du vielleicht versuchen, sie zu beschreiben; aber was Du wirklich erlebt hast, bleibt mir doch verborgen. Zitieren
Weihrauch Geschrieben 10. Januar Melden Geschrieben 10. Januar (bearbeitet) vor 2 Stunden schrieb Cosifantutti: Es ist vielleicht nicht sehr hilfreich, wenn man sogleich in die Diskussion von Einzel- und Spezialfragen einsteigt ohne sich zuvor über grundlegende Aspekte der vorliegenden Texte zu verständigen. Auf einer allerersten Ebene muss man sich doch darüber verständigen, wie die Texte ( hier Geneses Kapitel 1 - 11 ) grundsätzlich zu verstehen sind. Du hast das Wort Mythos ins Spiel gebracht, ich habe dem zugestimmt und nicht widersprochen. Das haben wir also schon getan, uns über die grundlegenden Aspekte der vorliegenden Texte zu verständigen. Die Urgeschichte ist der Gründungsmythos des Judentums und kein historisch zu verstehender Tatsachenbericht, wie es Fundamentalisten gerne hätten. vor 2 Stunden schrieb Cosifantutti: Eine "fundamentalistische" Auslegung wird darauf bestehen, die Texte als "historische Berichte" zu verstehen in diesem Sinne: es gab in der Menschheitsgeschichte einmal eine Zeit, in der die Menschen im "Paradies" lebten und es gab dann - wiederum innerhalb der konkreten Menscheitsgeschichte - einen konkreten Zeitpunkt des "Sündenfalls" und der "Vertreibung des Paradieses.....die Grundkritik an solch einer "fundamentalistischen" Lesart geht davon aus, dass diese " fundamentalistische" Lesart gerade den Text im Ansatz vollkommen verfehlt, da es sich gerade nicht um einen historischen Bericht handelt, den man historisch irgendwo in der Geschichte der Menschheit einordnen kann, sondern eine ganz andere literarische Gattung vorliegt und ich - auf der Ebene des Literalsinnes - die Frage nach der literarischen Gattung nicht einfach ignorieren darf. Darin sind wir uns doch einig. vor 2 Stunden schrieb Cosifantutti: Treten auf dieser alleresten Ebene, auf der Ebene des Literalsinnes und der Frage nach den literarischen Gattungen schon unüberbrückbare Differenzen auf, so ist eine weitere argumentative Verständigung eigentlich nicht mehr möglich. Was für unüberbrückbare Differenzen sollten zwischen uns beiden denn noch auftreten, da wir uns in all dem einig sind, und was könnte uns eine weitere argumentative Veständigung unmöglich machen? Ich verstehe nicht, was du mir mit deinem Beitrag sagen möchtest. bearbeitet 10. Januar von Weihrauch Zitieren
Weihrauch Geschrieben 10. Januar Melden Geschrieben 10. Januar vor 2 Minuten schrieb iskander: Heißen die beiden Schullamit und Salomo? Mein Fehler. Sie heißt Schulammit in der Einheitsübersetzung und Zürcher Bibel, Sulamith in der Luther, Menge und Elberfelder, Schulamitin bei Buber, Rosenzweig. Zitat Hld 3,6-11 EU Wer ist sie, / die heraufsteigt aus der Wüste / in Säulen von Rauch, umwölkt von Myrrhe und Weihrauch, / von allen Wohlgerüchen des Händlers? Sieh da, Salomos Sänfte! Sechzig Helden geleiten sie / von Israels Helden, alle vertraut mit dem Schwert, / geschult für den Kampf. Jeder trägt sein Schwert an der Hüfte / gegen die Schrecken der Nacht. Einen Tragsessel ließ sich König Salomo zimmern / aus Holz vom Libanon. Seine Pfosten hat er aus Silber gemacht, / seine Lehne aus Gold, seinen Sitz aus Purpur, / sein Inneres ausgekleidet mit Liebe von den Töchtern Jerusalems. Kommt heraus und schaut, ihr Töchter Zions, / König Salomo mit der Krone! Damit hat ihn seine Mutter gekrönt / am Tag seiner Hochzeit, / am Tag seiner Herzensfreude. Hld 7,1-4 EU Wende dich, wende dich, Schulammit! Wende dich, wende dich, / damit wir dich anschauen! Was wollt ihr Schulammit anschauen / wie beim Tanz der beiden Lager? Wie schön sind deine Füße in den Sandalen, / du Fürstentochter! Deiner Hüften Rund ist wie Geschmeide, / gefertigt von Künstlerhand. Dein Nabel ist eine runde Schale, / Würzwein mangle ihm nicht. Dein Leib ist ein Weizenhügel, / mit Lilien umstellt. Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, / Zwillinge einer Gazelle. Zitieren
iskander Geschrieben 10. Januar Melden Geschrieben 10. Januar @Studiosus Es mag aus einer religiösen Perspektive ja legitim und naheliegend, dem Hohelied auch eine allegorische Dimension zuzuschreiben. (Hier käme dann wohl tatsächlich vor allem die mystische Erfahrung in Betracht.) Aber damit ist für die Kirche noch nicht das Problem gelöst, dass der Text dem Literalsinn nach von einer leidenschaftlichen erotisch-sexuellen Beziehung handelt, bei der die Protagonisten ganz offensichtlich nicht - und schon gar nicht allein - um des Kinderwunsches zusammenkommen, sondern aus Liebeslust. Das ist aber nach der klassischen kath. Moral verwerflich, weil nach dieser nur die Kinderzeugung (oder die Erfüllung der ehelichen Pflicht) Grund für sexuelle Betätigung sein darf. Selbst wenn wir die klassische Moral aber vergessen und uns die "neumodische" kirchliche Moral ansehen, bleibt noch immer ein Problem, denn es ist doch offensichtlich, dass man dem Text schon Gewalt antun müsste, um ihn so zu interpretieren, dass diese Liebe, bei der die Protagonisten einander suchen, Dritte fragen, wo der andere ist und sich außer Haus und im freien Feld treffen, eine Ehe repräsentiert (siehe oben). Das heißt dann aber, dass etwas, was nach kath. Lesart Todsünde ist, die Basis für eine Allegorie der Liebe zwischen Gott und Mensch/Kirche/was-auch-immer sein soll. Das ergibt wenig Sinn. Um es noch plakativer zu machen: Die Kirche würde ja auch kaum die Geschichte eines Freiers, der mit einer Prostituieren eine leidenschaftliche Zeit verbringt, als Basis für eine Allegorie der Gottesleibe nehmen wollen. Oder die innige und freundschaftliche Beziehung zwischen zwei Raubmördern bei einem gemeinsamen Beutezug. Nicht dass ich das inhaltlich alles in einen Topf rühren wollte - das läge mir fern. Ich möchte nur darauf hinaus, dass es doch wohl widersinnig wäre, als Basis für eine Allegorie, die die "Heilige Liebe Gottes" ausdrücken soll, eine "abscheuliche Sünde" zu wählen. Das (biblische) Judentum hat dieses Problem nicht, denn dort wird voreheliche Sexualität nirgendwo als sündhaft verurteilt. Die kath. Kirche aber, die selbst den sinnlichen Kuss zwischen Verlobten als (objektive) Todsünde verdammt, hat hier durchaus Problem - auch wenn sie die Augen vor ihm zu verschließen scheint. 3 Zitieren
iskander Geschrieben 10. Januar Melden Geschrieben 10. Januar vor 10 Minuten schrieb Weihrauch: Mein Fehler. Sie heißt Schulammit in der Einheitsübersetzung und Zürcher Bibel, Sulamith in der Luther, Menge und Elberfelder, Schulamitin bei Buber, Rosenzweig. Danke. Das meinte ich aber gar nicht. es scheint mir nur so, dass ein Teil des Hoheliedes nicht auf König Salomo passen will. Etwa wenn die Frau den Wächter fragt, ob er ihren Geliebten gesehen oder habe, oder wenn die beiden sich in der Natur zum Stelldichein treffen. Es scheint sich da wohl um mehrere Lieber zu handeln, die in eines verwoben wurden. Zitieren
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