jouaux Geschrieben 29. August 2001 Melden Share Geschrieben 29. August 2001 Immer wieder höre ich in Diskussionen, daß die IRA doch katholisch sei und der Vatikan dahinterstecke. Ich verneine das immer, mit dem Hinweis, daß die IRA niemals eine kirchliche Legitamitionsgrundlage hatte und der Ex-IRA-Chef Sean McStiofain nicht nur Engländer, sondern auch Protestant war. Welche partytauglichen Argumente gibt es noch, damit die Journalisten endlich die IRA nicht mit dem Adjektiv "katholisch" verbinden? Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Steffen Geschrieben 29. August 2001 Melden Share Geschrieben 29. August 2001 Die Begriffe "katholisch" und "protestantisch" haben in Nordirland schlicht nicht dieselbe Bedeutung wie im Rest der Welt. Hier dienen sie als Unterscheidungsmerkmal zweier gesellschaftlicher Gruppen, die seit jeher gegensätzliche soziale, politische, wirtschaftliche und schließlich auch religiöse Geisteshaltungen pflegen. Diese Kulturen haben sich aus dem Kontrast zwischen den alteingesessenen Iren (die arm, bäuerlich und katholisch waren) und den kolonialisierenden Siedlern (wohlhabend, industriell, angelsächsisch-protestantisch) entwickelt. Ihren ethnischen Klang erhielten die Konfessionsbegriffe schließlich durch die Selbstdefinition der heimisch gewordenen Siedler als "Protestanten". Tatsächlich können die nordirischen communities als Ethnien bezeichnet werden, wenn man keine rassische Definition zugrunde legt, sondern eine organisierte Gruppe zu fassen versucht, die sich der Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe in Abgrenzung zu den "anderen" überdurchschnittlich stark bewußt ist - und sich diesen "anderen" in Religion, Sitten, Geschichtsmythos und territorialem Anspruch überlegen fühlt. Zu den Katholiken zählten sich im jüngsten Zensus von 1991 41,4% der Bevölkerung, und 54% bezeichneten sich als Protestanten. Das alte 2:3-Bild der Konfessionsanteile stimmt also heute nicht mehr. Im demographischen Trend werden die Katholiken außerdem in Zukunft schneller zunehmen als die Protestanten, so daß eventuell in 30 bis 40 Jahren mit einer Majorisierung zu rechnen ist. Gemischte Ehen sind auch heute noch selten. Um die Zugehörigkeit zu einer der beiden communities zu benennen, gibt es jedoch präzisere Begriffe. In einer Umfrage zur eigenen politischen Identität (von 1995) gaben 90% der Protestanten an, daß sie Unionisten seien, während sich 60% der Katholiken als Nationalisten identifizierten. Die Ausdrücke unionistisch und loyalistisch beziehen sich also auf die protestantische Gruppe von Nordiren, die im politischen Verbund des UK verbleiben will. Ein Unionist vertritt jedoch tendentiell gemäßigtere Ansichten als ein Loyalist. Loyalisten sind generell extrem anti-irisch und anti-katholisch eingestellt und vehemente Anhänger der englischen Monarchie. Mit einer ganz ähnlichen Begriffsvariation findet man bei den nordirischen Katholiken Nationalisten und Republikaner, die sich allesamt irisch fühlen und ein vereintes Irland wünschen. Hier sind die Republikaner extremistischer (und übrigens auch sozialistischer) eingestellt. Sie würden typischerweise die Sinn Fein oder auch die IRA unterstützen. Woran kann man aber erkennen, wer Protestant oder Katholik ist? Am Dialekt oder an der Kleidung ist es sicher nicht festzumachen. Für die Nordiren selbst ist der Name der besuchten Schule ein sicheres Indiz, weil das Schulsystem segregiert ist. Auch der Ausdruck für "Nordirland" im Gespräch ist verräterisch: ein Protestant würde "province" sagen, ein Katholik dagegen "six counties". Für Außenstehende bleibt die Unterscheidung aber schwierig. Die Segregation der communities ist tief, aber nicht total. Immerhin sind sich beide in ihrer ursprünglich keltischen Abstammung, ihrer englischen Muttersprache und ihrer westlich-europäischen Lebensart sehr ähnlich. (Zurück zur Gliederung) Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Steffen Geschrieben 30. August 2001 Melden Share Geschrieben 30. August 2001 Eine ähnliche Problematik finden wir bei den Ostjuden, deren Zugehörigkeit zum Judentum in der Sowjetunion nicht nach den Grundsätzen der Halacha bestimmt wurde, sondern nach sowjetischer Gesetzgebung, und deren gemeinsame Identifikationsgrundlage eben in diesem Stempel "Jude" im sowjetischen Paß, der sie z.B. vom Universitätsstudium ausschloß, bestand. Das Gruppenzugehörigkeitsgefühl wurde also durch die gemeinsame Diskriminierung und nicht durch die gemeinsame Religion erzeugt. Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Abgar Geschrieben 30. August 2001 Melden Share Geschrieben 30. August 2001 Interessant, Steffen! Ich kannte zwar die Zusammenhänge und die mehr oder weniger vorgeschobene konfessionelle Differenz, aber der Alltag Irlands innerhalb der Segregation ist doch härter als einem stets präsent ist. Ein Filmemacher, den ich entfernt kenne, hat vor Jahren mal einen Reportage über die IRA gedreht. Seine protestantische Herkunft hätte eigentlich Vorbehalte und massive Probleme mit sich bringen müssen. Dem war aber überhaupt nicht so. Die Trennung ist eben keine konfessionelle, sondern eben -wie Du ja bereits geschrieben hast- eine historisch-politische auf anderer Ebene. Zum Abschluss seiner Filmarbeiten bekam er dann aber dennoch zwei Kugeln in seine Knie verpasst - nicht jedoch, weil er jeden Sonntag eine protestantische Kirche besucht hatte, sondern weil er in Gesprächen mehrfach von den "irischen Provinzen" gesprochen hatte; dies gab Anlass zu Verdächtigungen und sollte "angemahnt" werden... ! Grüsse Abgar Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
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